IV.   Verschiedenes mal nur so... (...as a kind of self-portrait)

 

 

Ich schaffe mir ein Bild der Umwelt in meinem Gehirn. Das ermöglicht die Orientierung und sichert meine Existenz. Tatsächlich „cogito ergo sum“, denn dem Denken kann ich durch falsches Verhalten sehr schnell ein Ende setzen. Mein Bild von der Welt kann also gar nicht so realitätsfern sein, also nicht nur so eine Art Traum. Es gibt da wirklich etwas!

 

Ich habe aber auch ein Bild von mir selbst inklusive der Tatsache, dass ich mir ein Bild von der Umwelt geschaffen habe.

 

Und ich habe ein Bild davon, dass ich mir ein Bild von der Tatsache, dass ich mir ein Bild von der Umwelt geschaffen habe.

 

Und so weiter in unendlich vielen Schritten der Selbstbezüglichkeit....

 

Wenn man eine Kerze vor einen Spiegel stellt, erhält man zusätzlich ein (virtuelles) Bild von ihr. Stellt man einen zweiten Spiegel parallel zum ersten auf, aber auf der anderen Seite der Kerze, so erhält man nicht nur ein weiteres Bild der Kerze, sondern auch ein Bild vom Bild vom Bild.... bis uns Unendliche. Es entsteht plötzlich etwas grundsätzlich Neues. Douglas R. Hofstadter´s  „Goedel, Escher, Bach“  folgend bin auch ich überzeugt davon, dass genau dieses Resonanzphänomen der Selbstbezüglichkeit in unserem Gehirn das so rätselhafte Ich-Gefühl, unser Bewusstsein verursacht, das was man auch so phantasievoll, gegenständlich mit Seele beschreibt. Ganz offenbar ist es ein reines Softwarephänomen, das ohne die Hardware, nämlich die Neuronen des Gehirns schlicht weg nicht existent wäre, bzw. ist !  Schon die Manipulierbarkeit des Bewusstseins durch Medikamente belegt das. Diese simple Tatsache scheint nun offenbar aber so schwer  akzeptierbar zu sein, dass wir uns seit jeher in durch Nichts belegbare, komplizierteste Gedankenkonstrukte flüchten, nur um ein sicherlich unliebsames Faktum wie dieses nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Man nennt das generell „Glauben“. Alles, was ich glaube weiß ich de facto nicht und alles was ich weiß, muss ich nicht mehr glauben. Dialektische Klimmzüge wie z.B. „Glaubenswahrheiten“ ändern daran nichts. –  Gut, aber was heißt nun schon „Wissen“?  Als Physiker beschränke ich mich darauf zu sagen, dass Phänomene, die man unabhängig von Zeitpunkt und Ort wiederholt in identischer Form unter sonst gleichen Bedingungen beobachtet, unser Wissen begründen. Und das ist inzwischen sehr viel mehr als sich andererseits viele der heutigen Esoteriker auch nur vorstellen können! Diese betrachten nämlich grundsätzlich denkbares, statistisch gesehen jedoch höchst unwahrscheinliches Wunschdenken schon oft als gesichertes Wissen, denn Letzteres sich kritisch anzueignen kostet nämlich viel Zeit und Mühe. Trotzdem: Jeder braucht sein Weltbild und man sollte es ihm nicht ungefragt nehmen. - Ich selbst möchte mit diesen meinen Zeilen deshalb keinesfalls „missionieren“! -Wer mir hier zustimmt, möge es tun, wer nicht, lasse es bleiben – oder lese die 791 Seiten des „Goedel, Escher, Bach“  erst einmal sorgfältig und vorurteilfrei durch, bevor er anfange mit etablierten, historischen Sichtweisen schnell dagegen zu halten. Auch mich hat dieses Lesen vor Jahren Zeit und Mühe gekostet (ca. 5 Monate!); auch ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich meine Sichtweise auf die Welt danach radikal revidieren würde!

 

Religionen machen zwar tröstende Glaubensangebote, vergewaltigen leider aber sehr oft  ohne jeden echten Respekt vor dem Individuum. So wird der an sich harmlose Begriff „Ungläubigkeit“ stets negativ besetzt und schnell synonymisiert mit Rücksichtslosigkeit, Egoismus, und Unmoral bis hin zu Kriminalität und schließlich der „Freigabe zum Abschuss“. Das war so während der Inquisition in Europa und ist es bis heute bei den Taliban. Religionen leben zumeist von der Angst vor dem Tod und von der Gemeinschaft im fraglichen Glauben: „Viele können doch nicht irren!?“ Wenige fühlen sich elitär und „auserwählt“, doch letztlich geht es nur noch Wenigeren zumeist um nichts als Macht. Gott bewahre uns vor Religionen!

 

Nein, nach meinem eigenen Tod bleibt von mir nur, was ich getan habe. Schon Goethe hat es im Faust II festgestellt: „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm!“  Wenn ich mich ehrlich frage, war dies die Triebfeder für mich: vielleicht eine Spur zu hinterlassen, etwas was über mein eigenes Ableben hinaus eine Chance hat ein wenig weiter zu wirken, ein paar gute Arbeiten in der Physik und ein paar musikalische Kompositionen, die auch diese unter Umständen etwas an Neuland  betreten. Ruhm hat in der Tat keine Überlebenschance. Wer war Rektor der Münchener Universität im Jahr 1873? – keine Ahnung. Irgendwo steht das sicher noch, ein Name. Wer war das? – keine Ahnung – ach doch, der hat doch das oder das geschrieben! Nur die Tat bleibt irgendwo mit etwas Glück eine Zeit lang erhalten – „denn ihre Werke folgen ihnen nach!“ Diesem meinem Glück möchte ich jetzt hier etwas auf die Sprünge helfen, nur das.

 

Meinen eigenen Tod erlebe ich nicht, genauso wenig wie ich je im Leben ein Einschlafen erlebt habe. Das Aufwachen erlebe ich! Eigentlich bin ich immer wieder etwas erstaunt darüber, dass ich tatsächlich noch da bin! Und wenn ich nun nicht aufgewacht wäre, dann wäre das etwas, was mich bewusst nicht trifft. Ich werde es nie zur Kenntnis nehmen, mein eigenes Ableben. Dass der Vorgang des Sterbens manchmal mit traumhaften Halluzinationen einhergehen kann, ist gut möglich. Das „Einschlafen“ selbst jedoch wird nicht registriert. Es ist schon erstaunlich, mit welch unbekümmertem Vergnügen wir uns nach einem echt anstrengenden, nervigen Tag in die „Falle“ hauen nur um „voll ab zu drehen.“ Stets glauben(!) wir fest daran wieder aufzuwachen, obwohl es de facto einmal ein gravierender Irrtum sein wird! - Einen fest traumlos schlafenden weckt man nicht. Sogar meine Katzen haben da immer geduldig am (und im) Bett gewartet bis es endlich wieder „los geht“. - Komisch, die kapieren, was man da macht - und respektieren es.

Der eigene Tod ist für mich ein bedeutungsloses Ereignis.
Ich bin unsterblich in meiner Zeit!

 

Für andere ist bald danach aber nicht einmal mehr die funktionsuntüchtige Hardware als solche noch vorhanden. Nur einzelne Bausteine sind noch da, oft weit verstreut, irgendwo, vielleicht auch hier und da in einem anderen Organismus. Ist das tröstlich? - Auf jeden Fall Tatsache! Wo war meine „Seele“ vor meiner Geburt? Ich weiß es nicht. Reicht mir „Glauben“? - Es ist dies ein nicht lösbares Problem nur dann, wenn man die Seele als gegenständlich betrachtet und nicht als das, was sie ganz offensichtlich ist. Nochmals: Die Beeinflussbarkeit des Bewusstseins durch Medikamente! Eine veränderte Hardware verändert die Funktion der Programme, aber kein Programm funktioniert ohne funktionstüchtige Hardware. Strukturierte Materie ist eine notwendige Voraussetzung für  unser Denken, unseren Geist. Die völlig unbegründete Angst vor dem Tod hat nur deshalb so merkwürdige, dramatische Konsequenzen, weil den Tod noch nie jemand erlebt hat - und dabei wird es bleiben. Wir kennen ihn nur aus externer Beobachtung – und auch dabei wird es bleiben.

 

Fünf mal habe ich selbst bisher im Beisein aus nächster Nähe den Sterbevorgang miterlebt. Zwei mal war das bei nahen Verwandten und dreimal bei Haustieren, die eines natürlichen Todes starben. Einmal war es zumindest in zeitlicher Nähe:

 

Mein Vater hatte in der letzten Nacht vor seinem Ableben Panik. Wiederholt hat er das Radio auf höchste Lautstärke gedreht, wohl um sich davon zu überzeugen, dass er „noch da“ ist. Fix und fertig von dieser Nacht hat man ihn morgens dann auf die Intensivstation gelegt, damit er sich erst mal schlafend erholen sollte. Ich habe ihn bei meinem Kommen darum nicht geweckt, sondern noch ca. eine halbe Stunde im Garten auf meine Verwandten gewartet, damit wir dies zusammen tun konnten und genau in diesen 30 Minuten ist der Tod eingetreten – im Schlaf zu einer Zeit, wo er es gerade nicht erwartet hatte. Die Atmung hatte längst aufgehört als ich kam, aber seine Stirn war noch warm. Es dauert lange, bis die Wärme, die diesen Kopf über viele Jahrzehnte funktionstüchtig gehalten hatte, langsam geht. Unvorstellbar, dass all die vielen Gedanken, die ich mit ihm über die Jahre ausgetauscht hatte nun endgültig ausgelöscht waren, aber das war die Realität in diesem Moment. Nur was er hinterlassen hatte war noch da, z. B. bei mir.

 

Bewusstsein hat offenbar viel mit kurzzeitlichem Erinnerungsvermögen zu tun. Unseres ist enorm groß, das eines Vogels, so scheint es, sehr viel kleiner.

 

Die Amsel saß in unserem Garten und pickte Körner, während Kater Chico sich von hinten anschlich. Buchstäblich in letzter Sekunde bemerkt die Amsel die Gefahr – Lebensgefahr! – und fliegt in Panik davon. Und die Katze? – hat Pech gehabt und trottet gleichmütig davon auch sie. Zwei Minuten später sitzt die Amsel wieder an derselben Stelle und pickt in aller Ruhe die restlichen Körner auf. Hatte sie schon vergessen? Wir Menschen wären in dieser Situation so mit den Nerven fertig, dass an ein ruhiges Essen nach dem Schock nicht zu denken wäre. Und auch in der Situation der Katze würden wir uns über den Misserfolg erst mal 20 Minuten lang aufregen, völlig unproduktiv ärgern!

 

Am erstaunlichsten für mich verlief allerdings ein (ziemlich hässliches) Experiment, das ich vor Jahren mit meinem minderjährigen Sohn in den Ferien angestellt habe.

 

Es gab da zwei Ameisenhaufen, einen mit unglaublich vielen, winzig kleinen Individuen und einen mit auch erstaunlich vielen, aber richtig großen solchen. Die Frage war, was passiert, wenn man eine der richtig großen Ameisen mitten in den Haufen der Myriaden von kleinen setzt. – Gesagt getan, und dann zu zweit gut beobachtet. Die Kleinen stürzten sich in panischer Wut sofort auf den eingedrungenen Riesen. Sie hängten sich zu dritt oder viert an jedes seiner Beine und begannen heftig zu beißen. Der Große saß mitten drin, ziemlich weit entfernt vom rettenden Außenraum. Nun begann der Riese Stück um Stück die Kleinen an seinen Beinen mit seiner fetten Beißzange in der Mitte durch zu schneiden. Der jeweilige Hinterteil fiel ab, ABER: der Kopfteil der Winzlinge kämpfte unbeirrt weiter, als wenn nichts geschehen wäre und zwar ziemlich lange. Uns kam es vor wie Minuten! Offenbar wurden die Attacken der Nestverteidiger dadurch aber schwächer und für den Riesen leichter zu bewältigen und zwar so, dass er nach einiger Zeit das freie Feld erreichen konnte. Der Große hat also gesiegt!

 

Wir Menschen wären in der Situation der kleinen lädierten Verteidiger – etwa mit einem abgetrennten Fuß – sofort handlungsunfähig. Der Schmerz würde uns lähmen und für Wochen außer Gefecht setzen. Spüren die Ameisen den Schmerz nicht so wie wir? Nehmen sie gar nicht „zur Kenntnis“, dass sie ihren ganzen Hinterkörper verloren haben? Hören sie nur aufgrund von Sauerstoffmangel schließlich „rein mechanisch“ auf zu agieren? Offenbar haben sie nur ein rudimentär ausgebildetes Bewusstsein in unserem Sinne – wenn überhaupt. Aber irgendetwas müssen sie ja registrieren, z. B. die Anwesenheit des Riesen, denn sie handeln danach ja zielgerichtet. Die Vögel, so scheint es, liegen zwischen uns und den Ameisen in dieser Hinsicht, und die Kommunikation mit unseren Haustieren läuft wohl so problemlos, weil sie als Säugetiere in ihrer Bewusstseinsstruktur uns schon sehr nahe kommen. Das Reflexionsvermögen der beiden Spiegel im oben zitierten Bild wird - so zu sagen - zunehmend besser!

 

Mein Vater war auch Physiker. Ich habe ihm sehr viel und zu großen Teilen meine Weltsicht zu verdanken. Vor allem seine 1950 in der Zeitschrift für Physik, Bd.127, auf  S. 623ff entwickelte Interpretation der Vakuumlichtgeschwindigkeit als geom. Mittel der konstanten Rotation eines gekrümmten materiellen Doppelraumes ((+u)(-u))1/2 = iu  und die damit verbundene Deutung der imaginären Einheit, hat mich sehr beeindruckt. Einerseits erlaubt diese eine wirklich triviale Begründung der Lorentz-Transformation, andererseits lässt sie aber auch das bekannte Asymmetrieproblem: Materie / Antimaterie einmal in einem völlig anderen Licht erscheinen. Auf meine Frage als etwa 10-jähriger wie es denn werde, wenn man in der Physik schließlich alles wüsste, bzw. herausgefunden hätte, sagte er: „Unser Wissen ist wie der Inhalt eines Ballons, den wir immer weiter aufblasen. Der Inhalt wird immer größer, aber die Oberfläche, d.h. die Grenze zum Unbekannten gleichzeitig auch.“ In der Tat scheint das so zu sein. Ich glaube inzwischen, nein ich sollte sagen: bin überzeugt davon, dass die Suche nach einer alles erklärenden Theorie in der Physik reine Illusion ist, niemals erfolgreich sein wird und zwar aus folgendem Grund. In meinen frühen Studienjahren habe ich einen einfachen, sehr einsichtigen Satz der Mengenlehre kennen gelernt, der lautet:


Man kann die Elemente einer Menge niemals umkehrbar eindeutig auf die einer ihrer endlichen Teilmengen abbilden.
Man kann also etwa alle Namen stets eindeutig auf die Menge der Buchstaben, aus denen ja auch die Namen zusammengesetzt sind, „abbilden“. Das nennt man die alphabetische Anordnung. Stets findet man Müller unter M. Man kann aber andererseits niemals aus dem Buchstaben M eindeutig etwa auf den Namen Müller schließen; es könnte genauso gut Meier gemeint sein. Der Umkehrschluss ist also nicht eindeutig. Wenn wir die Phänomene der Welt beschreiben, bzw. begreifen wollen, bilden wir sie modellmäßig auf Gedankenkonstrukte unseres Gehirns ab – was denn sonst? Unser Gehirn mit all seinen 1011 Neuronen und Möglichkeiten von Verschaltungen ist jedoch nur eine (kleine) Teilmenge des gesamten Universums (viele Gehirne auch!). Wir werden natürlich immer beobachtete Phänomene eindeutig durch Gedankenmodelle beschreiben können, von diesen aber niemals eindeutig auf alles Beobachtbare in der Welt widerspruchsfreie Rückschlüsse ziehen können. Die große Weltformel könnte einfach lauten: A*B = C , wobei aber völlig offen bleibt welcher Art die mathematischen Objekte A, B und C sind, Tensoren nicht endlicher Stufe etwa. Damit wäre dann alles, letztlich aber nichts gesagt.

 

So kommt mir auch das Vorgehen der Stringtheorie vor, als wenn man der Nadel im Heuhaufen dadurch zu Leibe rücken will, dass man einen Bagger mit einer riesigen Schaufel zu Hilfe nimmt. Natürlich hat man dann (auch!) die Nadel, aber ist das das angestrebte Ziel? Man muss halt geschickt wieder abladen – aber wie! Als erstes 7 von 11 Dimensionen wieder einrollen! Manchmal fürchte ich auch, dass wir bei der Suche nach den letzten Bausteinen der Welt: Atome, Elementarteilchen, Quarks... durch ein vorurteilsmäßig gegebenes Bild, nämlich dass es diese Bausteine wirklich so gibt, von der Natur lediglich in eine Reihe von Schritten in dieser Richtung geführt werden, ein echtes Ziel jedoch nur asymptotisch erreichen werden.

 

Eine häufig anzutreffende naturwissenschaftliche Vorstellung von Gott ist, dass er für alles bislang nicht verstandene, also für unser (unendliches) Nichtwissen stehe, eine Art dynamischer Gottesbegriff also. Das kann man so sehen, wenn man möchte. Wissen tun wir allerdings, dass die Evolution nicht determiniert abläuft, dass sie im Einzelnen damit auch kein vorgegebenes Ziel verfolgt, insgesamt also offen ist. Die Unschärferelation beschreibt dies sogar quantitativ exakt. Die anfänglich noch vermuteten „verborgenen Parameter“, die die Quantenstatistik auf höherer Stufe determinieren sollten, scheint es nicht zu geben. Ihre Existenz ließ sich nie einwandfrei begründen. Es scheint also keines Geistes erforderlich, der die Welt nach seinem Willen geschaffen hat, und auch wenn es diesen gibt, wüsste er demnach nicht, wie die Zukunft aussieht. Auch er könnte keine konkrete Verantwortung für unser Schicksal übernehmen, denn genau die hätte er ja im Schaffensprozess absichtlich dem späteren Zufall (und z. T. uns selbst) überlassen. Es liegt also keine zwingende Notwendigkeit vor einen Schöpfer der Welt anzunehmen. Man kann das aber tun, wenn man es möchte, nur bleibt er aus physikalischer Sicht dann eben ein sehr passiver, bestenfalls nur beobachtender Geist, was auch eine Antwort auf das Theodizeeproblem wäre. In der Uhrmachervorstellung des 19. Jhts wüsste Gott um die Zukunft, da ihn daran keine Quantenstatistik hindert. Natürlich habe ich in meiner Jugend auch in Erwägung gezogen Theologie zu studieren. Was  mich davon letztlich aber abgehalten hat, war die fast panische Angst vor der Tatsache, dass ich in weltanschaulichen Dingen dann niemals mehr frei meine Vorstellungen im Laufe der Zeit - neuen Erfahrungen entsprechend - revidieren dürfte, dass ich mit einem fest vorgegebenen Bild für immer existieren, und dieses ein Leben lang dritten gegenüber - wider besseren Wissens - überzeugend vertreten müsste.

 

Einer der schwierigsten Gedankengänge ist es sich vorzustellen, dass die Welt zwar Veränderungen, eventuell periodischer Art unterliegt, dass sie jedoch ansonsten nur ist, also nie geschaffen wurde. Dass es keinen Anfang und kein Ende auf der Ebene der Quantenfluktuationen gibt, ist für uns fast unvorstellbar, weil es so extrem der täglichen Erfahrung widerspricht. Dennoch glaube ich persönlich, dass es sich genau so verhält: Ich glaube nicht, dass diese Welt jemals geschaffen wurde, ich glaube, dass sie einfach nur IST. Wissen wir wirklich was Zeit bedeutet? Können wir das widerspruchsfrei herausfinden? In der Physik ist schon die Zeitrichtung ja wirklich nur sehr dürftig durch den  2. Hauptsatz der Wärmelehre begründet – sonst genau genommen durch Nichts. Die physikalisch irreale zeitliche Schranke der Singularität des Urknalls wurde durch Martin Bojowalds Differenzenquotientenansatz im Zusammenhang mit der quantisierten Zeit wohl grundsätzlich beseitigt. Bei der Suche nach der Struktur des Kleinsten dieser Welt sind wir bald auf den Welle-Teilchen-Dualismus gestoßen.  Nicht eine Modellvorstellung allein kann u. U. alles zu Frieden stellend beschreiben. Gelegentlich müssen wir sogar mit z. T. widersprüchlichen Modellen arbeiten. Vielleicht stoßen wir schließlich auch beim extrem Großen einmal auf derartige Dualismen in dem Sinne, dass auch dort nicht nur ein einziges (ev. zeitliches) Modell alles sinnvoll beschreibt?

 

Inwieweit ist unser Denkvermögen adäquat „konstruiert“, um die Umwelt „korrekt“ zu beschreiben?

 

Zunächst mal sollten die Bilder, die unser Gehirn von der Umwelt entwirft uns ganz elementar helfen den Organismus am Leben zu halten. Wenn ein Tiger auf uns zu rennt – mit gefletschten Zähnen etwa – sollen wir das nicht nur realisieren und uns an dieser Tatsache erfreuen, sondern möglichst schnell Folgen aus diesem Bild konstruieren und daraus den lebenserhaltenden Schluss ziehen: hau ab! Wenn wir oben auf dem Turm stehen, muss es genügen, wenn unser Gehirn quasi als Kurzvideo ausmalt wie es endet, wenn wir springen, und daraus als Konsequenz den Befehl geben: lieber nicht! Man nennt das auch Angst. So läuft das. Nur beim Sex schaltet dieser sog. Verstand oft ab. Die Fortpflanzung, die Erhaltung des Genpools unserer Art hat deutlich höhere Priorität als die des individuellen Lebens, vgl. dazu Richard Dawkin´s „The Selfish Gene“ (1976). Genpoole, die ihren Fortbestand nicht durch massenhaft produzierte Individuen sichern, entwickeln statt dessen die Simulationsfähigkeit, das "Bewusstsein" des Einzelnen.

 

Meter, Kilogramm, Sekunde sind die SI-Einheiten mit denen wir uns primär in der Umwelt orientieren. Konkrete Vorstellungen von Längen haben wir so in etwa von 1/10 Millimeter als Dicke eines Blattes Papier bis zu einigen Kilometern, dem Blick zum Horizont. Alles andere sind indirekte Schlüsse. Die Strecke München – Hamburg, einige hundert Kilometer werden in eine Art Zeitgefühl uminterpretiert: wie lange brauche ich da im Auto oder mit dem Flugzeug, oder wir ändern den Maßstab und nehmen eine Karte zu Hilfe, nutzen also ein „Modell“. Alle reden von Nanotechnologien; ein Nanometer, also 10-9 m , ein Milliardstel – geht´s noch? Also nehmen wir wieder ein - jetzt aber vergrößertes - Modell! Ähnlich läuft es bei Massen: 1 Liter Wasser als 1 kg ist gut vorstellbar, 1 Gramm als 1 cm3 Wasser, also eine Fingerkuppe auch noch. Aber 1 Milligramm und 10 Milligramm kann vermutlich niemand mehr unmittelbar als Gewichte unterscheiden. Die Grenze nach oben dürfte andererseits so bei 1 Tonne erreicht sein. Das wäre 1 m3 Wasser, ein Würfel von 1 Meter Kantenlänge, also gar nicht so viel, aber das hebt keiner mehr. Massen können wir generell ohnehin nur indirekt über gefühltes Gewicht (auf der Erde!) beurteilen. Unsere Wahrnehmung von Massen ohne Hilfsmittel bewegt sich also lediglich zwischen der von 1 cm3 und 1 m3 Wasser.

 

Und dann käme die Zeit: „Einundzwanzig, Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig,...“ O.K.  das sind in etwa die Sekunden. Schon da läuft es nicht so genau mit dem Gefühl. Eine Stunde - wie lang ist die? Beim Zahnarzt nimmt sie kein Ende, auf einer lustigen Party ist das fast gar nichts. Und ein Tag, ein Jahr? Zwar wird es hell und dunkel, gefühlt gemessen wird aber nur noch an der Anzahl „neuer“ Erlebnisse; Routine wird abgehakt, zählt nicht. Man nimmt den Kalender zu Hilfe, wieder ein Modell. Deshalb behält man auch die 2 – 3 Wochen Urlaub als wesentlich länger in Erinnerung als die der objektiv gesehen genauso langen Vorbereitungszeit.

 

Ich sollte genau hier jetzt doch auch mal meine „ 1:n – Regel “ erläutern, an den Mann - und klar doch auch an die Frau - bringen. Also: n ist die Anzahl der bereits gelebten Jahre. Unser 31:stes Lebensjahr empfinden wir als 1/30 der Lebenszeit, unser 71:stes als 1/70 Lebenszeit, also viel kürzer. „Die Zeit läuft mit den Jahren immer schneller“, ein allseits  bekanntes Gerede der alten Leute (wie mir). Unser zweites Lebensjahr mit 1/1 ist also  gefühlt verdammt lang und das erste mit 1/0 empfinden wir in der Tat unendlich lang. Wir kommen gefühlt aus dem zeitlich Unendlichen auf diese Welt. Um also gefühlt lange zu leben, müssen wir der Routine entfliehen, dem Gehirn stets Neues anbieten. Man nennt das auch „Lernen“. Erschreckend, dass genau das von vielen sehr jungen Leuten in den hoch zivilisierten Ländern mit super Lebensstandard zunehmend als lästig empfunden wird, abgelehnt und durch Scheinwelten, etwa im Drogenrausch ersetzt wird. Bei Katzen habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie ihr Zeitempfinden regelrecht steuern, „einstellen“ können, je nach dem ob sie vor dem Mauseloch im Zeitraffer dösend warten, oder in Zeitlupe zum präzisen Angriff übergehen. Tatsächlich glaube ich, dass die Menschheit letztlich einmal an Langeweile stirbt, einfach keine Lust mehr hat auf das Leben, wenn dem nicht z.B. der Einschlag eines Asteroiden zuvor kommt. In Ansätzen findet all das schon seinen Ausdruck durch die sinkenden Kinderzahlen der hoch entwickelten Länder. In Ländern mit miesesten Verhältnissen ist das umgekehrt. Dort kann man durch Lernen noch etwas erstrebenswert „Neues“ erreichen. –  Wie nur kann man den Leuten klar machen, dass Wissen erwerben an sich Glücksgefühle auslöst?  - dass dies im engsten Sinn wahrscheinlich sogar der einzige Weg zu anhaltendem Glück ist, weil die Evolution uns genau so zweckgebunden programmiert hat!? - Natürlich ist „Kaufen“ o. ä. auch ein solcher Weg. Der wirkt aber nur sehr kurzfristig, denn: „Kriegen ist wichtiger denn Haben!“ Geschenke auspacken verlängert lediglich die entscheidenden Momente. Es geht also auch hier letztlich nur um Neues für unseren Datenspeicher.

 

Eine statische Welt ohne Veränderungen braucht und hat keine Zeit. Erst zur Beschreibung von Veränderungen nehmen wir diesen Begriff zu Hilfe. Im Grunde genommen ist er nur genauso „man-made“ wie Energie, Feldstärke, u. ä.  Aber darüber haben andere schon viel mehr und sorgfältiger nachgedacht. Zeit ist für mich jedenfalls etwas sehr merkwürdiges, fast gespenstisches und vielleicht ein Grund dafür, warum ich mich ausgerechnet auch mit jener Art Kunst beschäftigt habe, in der die Zeit ein höchst dominierendes Element ist: Musik.  Rhythmus, Tonhöhe, Klangfarbe – O. K. nicht einmal die beiden letzteren kommen physikalisch gesehen ohne den Zeitbegriff aus: Ton, bzw. Frequenz als Schwingungen pro Sekunde und Klangfarbe als Frequenzmischung! Na klar, auch für ein Buch lesen benötigt man Zeit und auch um ein Gemälde anzuschauen. Dennoch ist es da irgendwie anders, nicht so eng „zeit-gebunden“. Man kann langsam oder schnell lesen, manches nur überfliegen oder zurück blättern. Und beim Betrachten von Bildern genügt manchmal schon ein Blick, oder man träumt stundenlang davor.

 

Was ich hier primär bewusst halten möchte, ist lediglich die Tatsache, dass unsere direkt wahrgenommenen Erfahrungen in Raum und Zeit maßstabsmäßig nur äußerst beschränkt sind. Das Meiste in der Welt entnehmen wir inzwischen nur noch Modellen und Analogien. Genau sie repräsentieren unser sog. „Wissen“, das wir quantitativ den Tieren so sehr voraus haben und das wir versuchen jeweils an die uns folgende Generation (zu ihrem möglichen Nutzen) weiter zu  geben. Dass dies langsam ein objektiv wachsendes, vielleicht auch Existenz bedrohendes Problem darstellt, zeigen u. a. auch die immer häufiger angesetzten Bildungsreformen in den hoch zivilisierten Ländern!

 

In wie weit entsprechen diese Modelle einer „Wirklichkeit“ ? - Um das zu entscheiden, müssen wir prüfen, in wieweit Schlüsse, die man aus ihnen zieht sich mit Erfahrungen aus der Realität decken. Eine Karte ist O.K., wenn man mit ihrer Hilfe tatsächlich von München nach  Hamburg gelangt. Newtons Theorie der Mechanik ist O.K., wenn sie das berühmte Fallen des Apfels und die Bewegungen der Planeten unter einen Hut bringt, korrekt beschreibt, bzw. voraussagt; und wenn Einsteins Verallgemeinerung der Newtonschen Theorie die Periheldrehung des Merkur auch noch erklärt, ist das ein guter Nachweis für die Gültigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie. Analog könnte man Beispiele für den „Beweis“ des Modells der Maxwellschen Elektrodynamik anführen. Nicht einmal den elektrischen Strom in einer metallischen Leitung etwa hat Irgendjemand bisher nämlich direkt gesehen! Am Ende werden die aus Modellen extrapolierten Schlüsse aber langsam unsicher. Man kann z. B. Skalen nicht immer beliebig dehnen. Architekten, die Holzmodelle bauen, wissen dass diese sich nicht beliebig vergrößern lassen. Das liegt daran, dass Volumina und damit Massen in der dritten Potenz der linearen Dimensionen zu nehmen und Flächen mit der Zweiten. Deshalb konnten die Dinosaurier nicht beliebig wachsen, fahren größere Schiffe ökonomisch profitabler, und werden auch die heutigen Insekten nicht beliebig groß. Die entsprechenden Hollywoodfilme sind (Gott sei Dank) Quatsch! Mit Modellen sind wir im 20. Jahrhundert in atomare Dimensionen vorgestoßen, die viel kleiner sind als alles, was wir unmittelbar sehen können, Dimensionen weit unterhalb vom Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichts. Wundert es, dass dabei ein einziges Modell manchmal nicht mehr alles widerspruchsfrei liefert? Ehrlich gesagt bin ich immer wieder baff erstaunt darüber, in wie weit die Mathematik, also unsere quantitative Logik trotzdem gut an die reale Welt angepasst ist. Und das obwohl es da doch nur um unser eigenes Gedankenkonstrukt geht!  Es ist, als ob die Natur uns vor hunderttausenden von Jahren schon mal prophylaktisch so ausgerüstet hätte, damit wir mit unseren Gedanken später noch möglichst viel anstellen können! Dass es im atomaren und extremen astronomischen Bereich mathematisch aber immer aufwändiger wird, darf deshalb auch nicht wundern. Es dürfte einfach eine  Folge der wachsenden Distanz von unserer unmittelbaren Erfahrungswelt sein.

 

Dass die Richtung der Zeit physikalisch, also real gesehen nur über den 2. Hauptsatz der Wärmelehre, d.h. über das monotone Wachsen der Entropiefunktion festgelegt ist, hatten wir schon. Banal betrachtet heißt das, dass die Unordnung in der Welt stetig nur zunimmt. Überlässt man ein aufgeräumtes Kinderzimmer „sich selbst“, so nimmt das Chaos stetig zu und alle Gegenstände nehmen schließlich den Zustand minimaler potentieller Energie ein, d.h. alles liegt schließlich wirr verstreut am Fußboden. Der aufgeräumte Zustand sollte  also zwangsläufig der zeitlich frühere sein. Damit ist die Richtung der Zeit definierbar. Für die Physik heißt das allgemeiner, dass Wärme gewissermaßen der Müllkübel der Energie ist. Ein Auto beschleunigt. Dabei wird nutzbare, z.B. in Benzin chemisch gespeicherte Sonnenenergie aus dem Erdmittelalter zu einem Teil in nützliche Bewegungsenergie verwandelt. Der größte Teil aber fällt nur als Wärme im Motor ab. Dann kommt die rote Ampel und wir müssen halten, bremsen. Und dabei wird der Rest der schönen kinetischen Energie dann auch noch in Wärme durch Reibung der Beläge in der Bremstrommel umgesetzt. – Tja, und so läuft das letztlich immer ab, egal was wir tun. Auch Müll hat ja sonst die Tendenz immer zu wachsen und lässt sich bekanntlich nur zu einem sehr geringen Bruchteil wieder in Nützliches, wie Elektrizität zurück überführen. Stirbt die Welt wirklich den „Wärmetod“? Wir wissen es nicht sicher. Möglicherweise greift auch hier wieder die Quantenstatistik global gesehen korrigierend ein. Allerdings können nicht nur wir Menschen – frei nach Laune! -  aufräumen, d.h. lokal wieder Ordnung schaffen, sondern auch Tiere, wie die diebische Elster, die gern glitzernde Gegenstände sammelt und dazu auch noch „schöne“ Nester baut. Ist biologisches Leben in der Lage die Entropiefunktion lokal abnehmen zu lassen? Ist genau diese unsere Einflussnahme auf das Weltgeschehen die Lösung des Problems? -  Leider nein,  denn der Zuwachs an Entropie, den allein die lebenserhaltende Produktion an Wärme der Organismen bedingt, überwiegt bei weitem der durch sie gelegentlich geschaffenen Reduktion. Mathematisch ausgedrückt können wir nur die Steigung der Entropiefunktion, also ihre erste Ableitung lokal etwas verringern, nicht mehr. Aber das ist schon etwas, und darauf komme ich noch mal zurück!

 

Gerade 2012 hat die EU den Friedensnobelpreis erhalten, ein Verbund von Demokratien.
In meinen Teenagerjahren war der sog. kalte Krieg noch in vollem Gang: demokratischer Westen gegen den diktatorisch geführten Warschauer Pakt, den Ostblock. Die wussten echt was sie wollten und griffen total durch, wo sie nur konnten um ihre Ziele zu erreichen. Militärisch wurde alles bestens unter Verschluss gehalten, während der Westen auch die sensibelsten Dinge in allen Zeitungen breit treten ließ. Das war zumindest mein Eindruck als junger Teenager. So wie die knallhart ihre Ziele verfolgen, haben wir doch letztlich keine Chance mit unserem offenen, demokratischen Getue, fand ich. Man musste sich nur einmal die Reifen deren militärischer Lastwagen anschauen. Das waren Dinger! Nicht so schmalbrüstiges Zeug wie die unseren, die sofort im ersten Schlamm stecken blieben. Mein Vater wurde immer stocksauer, wenn ich so argumentierte und plärrte mich richtig an: „Ja, wenn du nicht einmal an unsere Sache glaubst, haben wir natürlich keine echte Chance!“ – Überzeugt hat mich diese Art der „Argumentation“ natürlich nicht, aber des lieben Friedens Willen ließ ich das Thema dann ruhen. Es hat lange gedauert, Jahrzehnte bis ich einsah, warum nur die Demokratie auf lange Sicht überlebensfähig ist und Diktaturen stets unter gehen werden. Schon das Nachfolgeproblem der „Köpfe“ dort ist offenbar sensibel und wackelig, vor allem aber entsprechen Diktaturen nicht dem Erfolgsrezept der Natur, nämlich der

Selbstorganisation!

Elementarteilchen bilden Atomkerne als lokale Minima der potentiellen Energie ohne Zutun eines äußeren „Willens“. Elektronen fügen sich elektrostatisch, von selbst entsprechend dem Pauliprinzip hinzu, wodurch neutrale Atome entstehen. Diese ihrerseits organisieren sich wiederum in Energieminima zu der großen Vielfalt von Molekülen – von selbst ohne Eingriff von Außen! Moleküle organisieren sich dann mit Hilfe der DNA bzw. DNS zu Organismen – ohne aktives Zutun eines „Schöpfers“. Es sind dies dynamische Strukturen, die aufrechterhalten werden aufgrund eines gewissen Energieumsatzes, nicht aufgrund von statischen Kräften wie etwa bei Kristallen. Es sind Strukturen wie Hurrican-Wirbel, Sonnengranulation, oder langzeitstabile Meeresströme. Auch die „sterben“ sicher einmal! Jede Zelle enthält die Information über den Gesamtplan des Organismus, spezialisiert sich aber unaufgefordert von selbst auf die jeweils erforderliche lokale Aufgabe, die bei Transplantationen z. T. sogar gewechselt werden kann. In der Demokratie sind die Institutionen, also die Positionen fest vorgegeben, ihre Besetzung mit Individuen aber ist jederzeit auch  austauschbar. Es bringt nichts den Präsidenten zu ermorden, der Vize steht sofort bereit. Eine Personen-unabhängige Struktur ist daher bestens stabil. Je Personen-gebundener die Institutionen sind, umso instabiler werden sie. Deswegen sind Diktaturen nur jeweils temporär stabil, auf Dauer aber immer dem Zerfall ausgesetzt.

 

In der Gegenwart sind wir Menschen lediglich damit beschäftigt eine weitere, auf die Einzelorganismen folgende Organisationsstufe selbstorganisatorisch  zu entwickeln:

 

eine stabile Gesamtmenschheit als nächst höhere biologische Strukturebene.

 

Es scheint dies nicht unserem freien Willen zu unterliegen, sondern einem weit grundlegenderen, strukturellen Entwicklungsprinzip der Welt zu entsprechen, einem Kondensationsprozess.  Gewollt oder ungewollt sind wir daher zwangsläufig noch mitten drin in diesem - wahrscheinlich für zwei bis fünf Jahrhunderte. Und vermutlich werden wir noch viel „Lehrgeld“ in Form von Menschenleben bezahlen müssen, bis alle Teilpopulationen realisiert haben, dass jede Abweichung von der Demokratiestruktur sich letztlich nur nachteilig für alle auswirkt, ein „Mehr an Energie“ erfordert. Europa hat diese Lehre z. Zt. schon am weitesten verinnerlicht, deshalb auch der Friedensnobelpreis – zu Recht. Die Staaten des nahen Ostens haben da noch einen ziemlichen Weg vor sich. Autoritäre, religiöse Strukturen verhindern aufgrund ihrer statischen Dogmatik die von der Natur favorisierte, nicht zielgerichtete, selbstorganisatorische Evolution. Auch keine Religion kann sich dieser auf Dauer widersetzen. Hier steht die Geschichte Europas tatsächlich als klarer historischer Beweis da - wenn man denn gewillt ist ihn zu sehen! Den längsten Weg hat wohl Afrika noch vor sich. Die dortigen Gebilde sind noch weit entfernt sogar von nur einer eigenen Nationalstaatlichkeit, die erst dann langsam überwunden werden kann und muss. Teilpopulationen der Menschheit scheinen kaum von den „Fehlern“ anderer lernen zu können – leider. Der Balkan nach Tito hat genau das überdeutlich demonstriert. Alle müssen bisher ihre eigenen Erfahrungen sammeln – leider! Hoffentlich werden viel später einmal nur noch die virtuellen Welten den Raum für freies (bzw. chaotisches) soziales Experimentieren bereit stellen und internationale Sportveranstaltungen vollständig die für unsere Evolution so charakteristischen  Machtkämpfe ersetzen, denn evolutionär bedingte „Bedürfnisse“ werden sich kaum so schnell an die z. Zt. rasanten sozialen Veränderungen  anpassen können.

 

Das Gehirn, das oberste Steuerorgan des Individuums ist nicht mit beliebigen Vollmachten ausgestattet, wie die eines Diktators. Es kann in Ausnahmefällen dem Organismus zwar schon mal den destruktiven Befehl „spring“ oben auf dem Turm geben, vieles jedoch kann es nicht. Wir können z. B. nicht auf Befehl aufhören zu atmen; in der Ohnmacht fangen wir doch wieder an, und auch den Herzschlag können wir nicht einfach „abstellen“, und die Verdauung  auch nicht, u.s.w...! Der Regierungschef einer Demokratie kann vieles lenken, er hat große „Macht“, jedoch ähnliche Grenzen der Einflussnahme. Er darf nirgends z. B. die Vorfahrtsregeln einer normalen Straßenkreuzung einfach ändern. Ein Diktator könnte das schon. Hitler z. B. hat einfach nur mal so „zack“ den Rechtsverkehr in etlichen besetzten, europäischen Gebieten  „eingeführt“!

 

Jeder Organismus der erfolgreich lebt, besitzt eine Art Immunsystem zur Abwehr zerstörerischer, aber auch selbstzerstörerischer Einflüsse (Krebs!). Dass die Menschheit auf dem Weg zur Bildung eines „Organismus“ auf höherer biologischer Organisationsstufe ist, zeigt sich auch in dieser Hinsicht. Kriege schaffen „Verletzungen“ für diesen, die aber im Regelfall relativ schnell wieder „ausheilen“, auch wenn sie  sehr vielen  Individuen manchmal das Leben gekostet haben. Dauerfolgen für den Gesamtorganismus Menschheit haben sie in rein biologischer Hinsicht nicht.  Anders ist es mit Kernwaffen und der Nutzung von Kernenergie. Dass wir begannen Isotope, langlebige radioaktive Isotope wieder herzustellen, die im Laufe von 6 – 7 Milliarden Jahren seit der Entstehung des Sonnensystems recht gut von der Bildfläche verschwunden waren, hatte eine andere Dimension. Besonders das unkontrollierte Verbreiten dieser Isotope in der Umwelt, also dem Biotop der Erde, könnte unsere Genetik so weit schädigen, dass ein selbst verschuldetes Ende unserer gesamten Existenz real erscheint. Es ist bemerkenswert, wie die Antiatomkraftbewegung über alle Grenzen hinweg fast aus dem Nichts heraus entstand und zäh, unermüdlich aktiv blieb. Jede Hoffnung der Politiker, dass diese sich schon „tot laufen“ würde, lief statt dessen ins Leere, und das obwohl die wenigsten Menschen die physikalischen Gegebenheiten wohl tatsächlich durchschaut haben dürften. Hier trat eine Art kollektiver Abwehrinstinkt in Aktion. Auch die Friedensbewegungen waren nie so stark im allgemeinen Bewusstsein verankert, bzw. bislang dauerhaft aktiv.

 

Bereits im Altertum haben sich die Menschen mechanische Hilfsmittel geschaffen um die Körperkraft zu optimieren und erheblich zu vergrößern: das Rad, die schiefe Ebene, den Hebel, den Flaschenzug, u.s.w.  Damit konnten die kleinen Menschen große Pyramiden und Kathedralen bauen. Aus der Zeit um 2500 vor Christus ist die Verwendung einfachster Linsen als Sehhilfen belegt. Diese entstanden meist zufällig beim Glasschmelzen als Tropfen. Erste Brillenabbildungen auf Holzschnitten stammen aus dem 14. Jahrhundert. Mikroskope und Fernrohre begannen ihren Siegeszug am Anfang des 17. Jahrhunderts. Das Auge, unser Sehvermögen wurde optimiert und erheblich verbessert. Hörrohre halfen schon früh bei  Schwerhörigkeit. Im allgemeinen Bewusstsein sind sie auch heute noch geblieben, primär wohl durch das Beispiel Beethoven. Die Elektronik des 20. Jahrhunderts brachte eine exponentielle Steigerung diesbezüglicher Möglichkeiten. Das Ohr, unser Gehör wurde optimiert und seine Möglichkeiten durch Richtmikrophone, Verstärker u.a. erheblich erweitert. Gesehenes, Bilder haben wir schon seit Urzeiten festgehalten in Felsmalereien bis hin zur Fotografie und Kinematografie. Gehörtes und Musik können wir in Originalform seit der Erfindung des Phonographen Ende des 19. Jahrhunderts konservieren und reproduzieren. Ja, auch Gerüche und Geschmackserlebnisse können wir Dank der Chemie imitieren und reproduzieren. Das LSS, das „Life Supporting System“ hat es menschlichen Individuen sogar ermöglicht sich auf einem anderen Himmelskörper, dem Mond ohne Atmosphäre frei zu bewegen und dann auch noch zu kommunizieren.

 

In den 50:er Jahren, meiner Teenagerzeit sprach man allgemein von einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte: dem Atomzeitalter. -  Steinzeit, Altertum, Mittelalter, Neuzeit und nun also das Atomzeitalter. So wurde uns das in der Schule gesagt. Sorry, aber Tatsache: mir schien das schon damals ziemlich blöd. Eine Bombe soll Grund für ein neues Zeitalter sein? Warum war das nicht auch schon die Erfindung der Feuerwaffen gewesen? Immerhin sahen Kriege auch damals plötzlich ganz anders aus als zur Zeit der Lanzen- und Schwerterkämpfe. Mein Großvater soll zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er von der Erfindung des Maschinengewehrs erfuhr, gesagt haben, dass dieses wohl nun endgültig Kriege unmöglich machen würde. Von Kampf und Sieg könne wohl keine Rede mehr sein, wenn man sich gegenseitig nur noch einfach „nieder mähen“ würde! Die Geschichte zeigte: keineswegs! Aber vielleicht haben die Atomwaffen etwas ähnliches immerhin über ein halbes Jahrhundert lang z. Zt. geschafft. Optimistisch bin ich da für die Zukunft allerdings nicht. Religiöse Fanatiker, die allen Ernstes von ihrem Denken als dem einzig richtigen überzeugt sind, könnten anders handeln. Es ist gefährlich, wenn modernes, weit entwickeltes technisches Können unvermittelt auf ein um Jahrhunderte rückständiges Bildungsniveau trifft und letzteres sich in Verbindung mit einem nachvollziehbaren Unterlegenheitsgefühl in aggressiver Geltungssucht Aufmerksamkeit verschaffen will und kann. Aber auch da müssen wir durch. Ich denke, dass es (mit  ziemlichen Verlusten) gehen wird. Das Leben als solches ist stärker als wir Individuen.

 

Also nein, atomares Zeitalter – Nein! Etwas ganz anderes ist in diesem 20. Jahrhundert passiert, etwas das unser Leben wirklich generell verändert hat: die Mikroelektronik, der Computer. Das, was uns Menschen von den Tieren wirklich abhebt sind nicht Körperkräfte, tolle Sinnesorgane oder gar prinzipiell Emotionen, es ist unser Verstand, das rationale Denken! Das elementare Zählen: „eins, zwei, viele“ scheint auch Tieren möglich, wir jedoch können nicht nur eindeutig und beliebig weit zählen, sondern hantieren auch mit beliebig großen Zahlen nachvollziehbar eindeutig herum. Wir kalkulieren quantitativ, auch wenn die formale Grundlage des Zählens, das Primzahlenproblem bis heute noch immer ungelöst geblieben ist. (Genau deshalb hat auch mich dieses fasziniert und beschäftigt, wenn auch nicht rational – aber dazu etwas mehr erst später!) Der Computer optimiert und erweitert die Fähigkeiten unseres Gehirns, das für uns wichtigste Organ. Dass hier ein echter, geschichtlicher Einschnitt vorliegt ist doch wohl offensichtlich. Dies ist der Beginn einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte. Unser Speicher bezüglich Gesehenem, Gehörtem und Gedachtem nimmt zu ins Unvorstellbare, und der Zugriff auf alles wird zudem in Sekundenschnelle für fast jeden grundsätzlich möglich. Die Menschheit entwickelt erstmals z. Zt. ein großes, gemeinsames Gehirn: das Internet. Nirgends sonst sieht man so eindeutig, wie sich die nächst höhere, biologische Organisationsstufe gegenwärtig gerade formiert, wie hier. Nach dem Hantieren, Sehen und Hören unterstützen und erweitern wir jetzt auch noch das Wichtigste: unsere intellektuellen Fähigkeiten.

 

Einen Zugriff von außen auf die Welt würden wir als das beobachten, was man landläufig als „Wunder“ bezeichnet. Allgemeingültige Naturgesetze, vor allem die Quantenstatistik würde(n) sich plötzlich temporär ändern. Das wurde bislang allerdings noch nie beobachtet. (Die einfältige, esoterische Logik dazu lautet: Ausschließen können sie das aber nicht, also ist es so!) Niemand ist für seine Geburt verantwortlich.  Da wir danach aber ein innerer Teil der Welt geworden sind, haben wir erfahrungsgemäß die Möglichkeit zum „lokalen Lenken“.  --  Vielleicht kann man die dabei im Raum stehende Frage nach dem „Freien Willen“ des Menschen quantitativ interpretieren durch das Ausmaß der lokalen Reduzierung der Steigung der Entropiefunktion zu der wir im Einzelfall – frei nach Laune! – in der Lage sind?

 

Ein dramatisches Beispiel für die Bedeutung der Quantenstatistik für den Lauf der globalen, neueren Geschichte, das mich selbst oft erschreckt, sollte ich hier jetzt vielleicht doch noch schildern. Dazu muss ich zunächst allerdings auch noch etwas ausholen.

 

Dem sog. „Laplaceschen Dämon“ des 19. Jahrhunderts wurde seinerzeit nachgesagt, er könne die gesamte Vergangenheit, sowohl wie die Zukunft der Welt in toto rekapitulieren bzw. vorhersagen, wenn man unterstellt, dass er den Zustand der Welt zu einem festen Zeitpunkt, etwa „jetzt“ vollständig kenne und ihm zudem alle nur denkbaren Naturgesetze, von denen uns jeweils natürlich nur ein Bruchteil bekannt ist, zur freien Verfügung stünden. Laplace wollte den Begriff „Gott“ explizit vermeiden. An was Laplace seinerzeit aber nicht gedacht hatte, war die Möglichkeit der Existenz auch nur eines einzigen, generell gültigen, statistischen Naturgesetzes - und genau das ist Heisenbergs Unschärferelation! Zunächst sagt sie nämlich aus, dass wir den Zustand der Welt zu einem gegebenen „Zeitpunkt“ lediglich mit beschränkter Genauigkeit, niemals aber „exakt“ kennen können. Aus ihr folgt u.a. aber auch, dass der einzige freie Parameter des Gesetzes für den radioaktiven Zerfall die Zeit ist, was experimentell bestens verifiziert wurde. Kein Druck, keine Temperatur, kein Feuer, keine Säure, kein noch so raffiniertes Werkzeug kann den Zeitpunkt des freien Zerfalls beeinflussen, wir können nur „Warten“, und die Annahme doch existierender , uns nur noch unbekannter „verborgener Parameter“, die den Zufall sozusagen hintergründig determiniert steuern, führt, wie schon gesagt, ins Leere. Das ganze, massive Problem der Endlagerung radioaktiven Mülls wird letztlich dadurch verursacht! Mir scheint die Situation dem Primzahlenproblem irgendwie ähnlich.

 

Ein Großteil unseres Körpers besteht aus Kohlenwasserstoffen, wobei, was den Kohlenstoff betrifft bei großen Stückzahlen das radioaktive Isotop 14C mit einer Halbwertszeit von ca. 5700 Jahren zu etwa 1:1012 vorkommt. Zufällige, also statistische Zerfälle dieser Kerne finden laufend in unserem Körper statt und machen die entsprechenden Kohlenwasserstoffe oft funktionsuntüchtig. Die Regenerationsmechanismen unseres Körpers eliminieren diese und ersetzen sie. Lebensgefährlich jedoch sind derartige Zerfälle ganz am Beginn. Passiert ein solcher Zerfall nämlich in den ersten Minuten des Lebens, wenn der embryonale Körper erst aus nur wenigen Zellen besteht, gibt es diese Regenerationsmechanismen noch nicht und die molekulare Änderung kann sich höchst dramatisch auswirken. Wahrscheinlich sind viele (meist gar nicht bemerkte) Abgänge, die in der Monatsblutung unter gehen, hierauf zurück zu führen. Ich selbst hatte in dieser Hinsicht Glück – offenbar! Wenn nun aber ein derartiger, für den Embryo dramatischer, rein statistisch möglicher Zerfall in den ersten Momenten des Lebens Hitler betroffen hätte? – Der Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre so manches erspart geblieben! – Das muss man erst mal realisieren! Ja, und über die „Nichtgeburt meiner ansonsten so netten, sympathischen Schwester“ lohnt es sich erst recht gar nicht weiter nachzudenken. Dies alles sind Auswirkungen der Quantenstatistik, auf die niemand Einfluss nehmen kann – wohl auch nicht von Außen.

 

Ich denke, dass ein guter Wegweiser in die Zukunft für uns größtmögliches Glück für möglichst Viele ist – was immer Glück für den Einzelnen nun bedeuten mag. Jedoch haben wir, und nur wir hier etwas in der Hand: die schon mehrfach zitierte beschränkte Möglichkeit zum lokalen Lenken! Stelle ich mir die Frage, ob ich für mich selbst glücklich zu sein in Anspruch nehmen würde, so muss ich dies summiert über nun schon mehr als sieben Jahrzehnte klar mit „Ja“  beantworten. Merkwürdig, dass einem eine derartige Feststellung angesichts dessen, was man über das Schicksal so vieler Menschen weiß, immer etwas peinlich ist, so als hätte man etwas gestohlen. Letztlich jedoch sind Glück und Pech aber auch nur überwiegend das Ergebnis von Zufällen, die wir nicht zu verantworten haben. Es gehört z.B. viel Glück dazu eine Kindheit unbeschadet zu überstehen. Ich will jetzt hier nicht zitieren, was da alles schief, blöd und katastrophal laufen kann! Ich bin zufällig in einem hoch entwickelten und bald danach auch noch friedlichen Land geboren. Der Zufall wollte es, dass sich meine Eltern gut um mich (als Frühgeburt) gekümmert haben; ich konnte sie mir nicht aussuchen. Sie bemühten sich um eine gute Schulbildung und ermöglichten mir so manches an zusätzlichen Bildungschancen, wobei ich in letzterer Hinsicht aber auch schon steuernd mit geholfen habe, meine „beschränkte Möglichkeit zum lokalen Lenken“ eben. Die realistische Selbsteinschätzung dürfte eine notwendige Voraussetzung für Glück sein. Zum Beispiel wollte ich nie Dekan, Rektor, Bürgermeister, Minister oder irgendwie „Regierungschef“ werden. Zum Ausüben  derartiger, öffentlicher Ämter war ich viel zu emotional veranlagt, nicht cool und berechnend genug. Sie hätten mich kaputt gemacht, das wusste ich und deshalb bestand auch nie der entsprechende Wunsch. Eine Professur für Physik war das aber schon und zwar um forschungsmäßig die Möglichkeit zu haben eine gewisse Spur hinterlassen zu können. Und das hat mit Glück und Dank meines „lokalen Lenkens“ auch geklappt, und zwar fast genau so, wie ich es mir als Teeny erträumt hatte. Wernher von Braun hat einmal gesagt, dass er wohl zu den wenigen Menschen gehört, die sich die Träume ihrer Jugend voll verwirklichen konnten, die (etwas unrealistische) Mondfahrt in seinem Fall. Genau das kann auch ich von mir sagen, allerdings nur, weil ich Zeit meines Lebens lediglich realistische Träume gehegt habe – was keiner Willensanstrengung bedurfte!

 

Persönliche Freiheit und Ungebundenheit waren stets meine wichtigsten Güter. Vereinbarungen auf  partnerschaftlicher Basis, stellten dabei selbstverständlich keine Einschränkungen dar. Jedoch ist es nie jemandem gelungen mich „einseitig abhängig“ zu machen. Ich bin nie erpressbar gewesen. Da ich andererseits aber stets bemüht war meinen Mitmenschen hinsichtlich ihrer Wünsche - soweit möglich - entgegen zu kommen, ist dies hier und da leider aber auch missverstanden worden. Man hielt mich gelegentlich für „leicht lenkbar“ und versuchte mir das Heft aus der Hand zu nehmen. Auch das habe ich nie zugelassen. Meine sehr schnelle und meist extrem bissige Reaktion auf solche Unsensibilitäten hat mir deshalb auch den Ruf des Cholerikers eingebracht. Gründe für solche Reaktionen realisieren diese Leute naturgemäß nicht. Auch habe ich bezüglich der Finanzen das Ruder meines „Kutters“ stets fest in der Hand behalten!

 

Während des Studiums hatte ich einen Kollegen, der immer (etwas zu) große Ziele hatte, mich immer argwöhnisch, vielleicht neidisch betrachtete, und schließlich an seinen selbst gesteckten Zielen scheiterte. Er kam mir immer vor, wie jemand, der weit hinten am Weg eine schöne Blume stehen sah und dann anfing zu rennen um sie zu erhaschen, der aber bei seiner Ankunft am Ziel enttäuscht feststellen musste, dass ein anderer die Blume ihm in der Zwischenzeit schon weg geschnappt hatte. Und dieses Spiel wiederholte sich laufend. Meine Methode war ganz anders. Auch ich habe natürlich die tollen Orchideen in der Ferne gesehen und daher diese Richtung eingeschlagen, jedoch habe ich stets unterwegs auch die vielen kleinen, schönen Gänseblümchen gepflückt. Und als ich dann am Ort der inzwischen verschwundenen Orchidee ankam, hatte ich einen ganz tollen, dicken kleinen Strauß Bellis in der Hand, den alle bewunderten und um den mich besagter Kollege nun beneidete (und nicht nur der!) Tja, und dann stellte sich manchmal hinterher auch noch heraus, dass eines der Gänseblümchen gar keines war, sondern eine zwar noch kleine, aber sehr seltene Margerite! Zufälle, aber auch eine gute Portion Realismus gehören eben beide zum Glück im Leben.

 

Meine linke Gehirnhälfte, die für das rationale Denken verantwortliche, war absolut zu Frieden stellend, aber nicht exzeptionell gut ausgebildet. Es gab sehr viele Physiker meiner Generation, die wesentlich besser und auch ideenreicher waren als ich. Gleiches galt für meine rechte Gehirnhälfte, die für das holistische Denken verantwortliche, für das Gefühl. Natürlich gab es Musiker zu Hauf, denen ich nicht im entferntesten das Wasser reichen konnte. In einer Hinsicht aber war ich doch etwas eine Ausnahme, glaube ich, denn beide Hälften waren gut im Gleichgewicht, aber intensiv wechselwirkend konzipiert. Während Ausnahmetalente meist ein deutliches, einseitiges Übergewicht besitzen, hat mir diese meine Konstitution dafür die Übertragung neueren naturwissenschaftlichen Strukturdenkens in den musikwissenschaftlichen Bereich ermöglicht.

 

Nach dem Abitur sprach ich mit meinem Zeichenlehrer Zacharias Faith-Ell über Berufspläne und schilderte ihm dieses mein Schwanken zwischen Musikwissenschaften und der Physik. (Als Instrumentalist habe ich mich zu schwach eingeschätzt.) Sein Kommentar damals war, dass ich mich unbedingt entscheiden müsse, denn  man könne nie zwei Herren gleichzeitig dienen. So habe ich mich entschieden erst für das eine, dann für das andere, letztlich aber beides in etwa gleich intensiv während meiner produktivsten Jahre betrieben. Also doch! – Aber Faith-Ell hatte Recht: das hat immens an Kraft und Zeit gekostet, und letztlich ist wohl auch daran wesentlich meine erste Ehe zerbrochen. Rein technisch funktioniert hat es aber nur wegen dieser meiner speziellen Gehirnkonstitution: links überwiegend vom Vater, rechts überwiegend von der Mutter, die aber auch sehr stabil mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Auf meine Frage, was sie denn von der Auferstehung und dem ewigen Leben denke, hat sie nur kurz und etwas gereizt geantwortet: „Aber Reinhart, ich bitte Dich!“ Und damit war das Thema vom Tisch. Trotzdem ist sie gern gelegentlich in die Kirche gegangen. Das war für sie kein Widerspruch, genau so wenig wie für mich. Alles was der christliche Glaube von mir verlangt, die ethischen Grundsätze, befürworte ich voll und ganz. Alles was er mir als „Belohnung“ für deren Befolgen verspricht, halte ich für fragwürdig und für mich persönlich überflüssig, bzw. nicht relevant. – Ein jüdischer Weiser soll einmal gesagt haben, dass es die größte intellektuelle Leistung der Menschheit gewesen sei sich selbst eine moralische Autorität zu schaffen, der sie sich dann unterordnet.

 

Mein Vater spielte recht gut Klavier von Beethovensonaten bis zu einigen Chopinetüden, die Mutter jedoch hatte stets das bessere Gefühl, wenn es darum ging Werke auf ihre Qualität hin zu beurteilen, fand ich. Meine Begeisterung für das Bachsche Orgelwerk etwa konnte der Papa nur zögernd und etwas erstaunt nachvollziehen, ganz im Gegensatz zur Mama, die ihrerseits wiederum nur ein einziges Kinderstück auf dem Klavier so einigermaßen hin bekam. Trotzdem hat sie für mich einen totalen Volltreffer in diesem Zusammenhang gelandet, nämlich just die Anschaffung eines Klaviers als ich so gerade mal 13 Jahre alt war - leider etwas spät! Das geschah tatsächlich weitgehend gegen den Willen meines Vaters. Er fand, dass sie doch schon genügend Ärger damit hatte mich zum Erledigen der Hausaufgaben anzuhalten. Ich war da nämlich sehr nachlässig, habe mich stets und meistens erfolgreich ganz auf mein Gedächtnis verlassen. In der Schule habe ich nämlich fast immer „gut aufgepasst“, wie das so schön heißt, also nicht laufend geschwätzt. -  „Wenn ich jetzt schon hier sitzen muss, und der da vorne etwas erzählt, kann ich mir das ja meinetwegen auch mal anhören - quasi zum Zeitvertreib“; das war so meine Haltung. Die Mama aber blieb zäh (auch das habe ich von ihr) bis das Klavier gekauft war, ein schwedisches Fabrikat, „Hofmann“.  Sollte ich schon gar nicht anbeißen, dann könnte ja schließlich mein Vater sich wieder  seinen früheren Konsevatoriumsunterricht aus Sondershausen in Erinnerung bringen und auffrischen, fand sie. Das war wohl dann letztlich überzeugend. Irgendwie muss sie mich gut beobachtet haben, denn so mit 10 Jahren habe ich angefangen den Schellackplattenschrank der Eltern intensiv zu durchforsten und bald entdeckt, dass Liszt´s „Les Préludes“ und Smetana´s „Moldau“ wesentlich interessanter waren als „Happy Days are Here Again“. Später bin ich dann irgendwie auf den zweiten Satz aus Beethovens 7:er Sinfonie gestoßen und wollte die unbedingt ganz haben. Ich erinnere mich, dass der Papa den Anfang des Satzes einmal auf dem Klavier bei Bekannten (Sjöstedt´s) anlässlich unseres Besuchs dort gespielt hat -  war es das? Wir hatten damals eben noch kein eigenes Klavier. Die „Siebte“ wurde dann meine erste 33:er DG-Vinyl und zwar zum 12. Geburtstag; es war die alte Monoaufnahme mit Jochum. Kurz darauf brachte mir der Papa die Penguin Score dazu mit aus Stockholm. Ich war echt platt, konnte es kaum fassen, dass es so etwas überhaupt gab. Noten lesen konnte ich ja noch kaum, aber man sah ja an der Grafik auch so ziemlich genau, wie das gemacht war! Beethovens 5:e auf 33:er DG mit Böhm wurde kurz danach gekauft, diesmal jedoch  gleich mit Partitur! Als ich dann aber auch noch die 9:e haben wollte, war Schluss. Jenes Album mit einer 10“ und einer 12“ war definitiv zu teuer. Ich habe es nie bekommen, und aus Trotz erst Jahrzehnte später bei ebay nachträglich erworben. Stattdessen musste ich mir ein 78:er Schellackalbum von meinem damaligen Musiklehrer ausleihen. 9 Platten waren es, die letzte nur einseitig bespielt, Telefunken glaube ich. So habe ich gestückelt die „Neunte“ kennen  gelernt. Es war eine Aufnahme mit Furtwängler. Wenn ich das jetzt so rekapituliere, war es doch eigentlich offensichtlich, dass ein Klavier für mich fällig war. Es kam also, und nach einem Jahr Unterricht bei der sehr netten Frl. Wallner, wollte ich von ihr mehr über Harmonielehre und diesen ominösen „Kontrapunkt“ wissen – wusste sie aber nicht, und so bin ich dann beim Volltreffer, dem Kirchenmusikdirektor Rudolf Norrmann gelandet. Er war Domorganist in Strängnäs und der Musiklehrer für die Oberstufe des Gymnasiums. Sein Privatschüler war ich vom 14. bis zum 19. Lebensjahr durchgehend, und da er selbst als Komponist sehr aktiv war, hätte ich es gar nicht besser treffen können. Das Instrumentalspiel lief so nebenbei, hauptsächlich waren wir immer mit der Theorie und Satztechnikanalyse beschäftigt. Dass ich alles spielen konnte, setzte er meistens sowieso voraus. Ich weiß allerdings noch genau, wie er mir den mehrfachen Fingerwechsel auf einer gehaltenen Taste beim Orgelspiel gezeigt hat, eine dringend notwendige Technik für das Cembalo und Klavichord später! Auch sehr sinnvoll war die  ergänzende  Erfahrung meiner Mitwirkung als Tenor in seinem Kirchenchor, denn damit war ich dann schon ganz auf  Polyphonie getrimmt – eine perfekte Voraussetzung für meine spätere Begegnung mit der Gruppentheorie bei Brandmüller. Die Schulzeit am Gymnasium in Strängnäs sehe ich im Nachhinein insgesamt wieder als einen großen Glückstreffer. Tatsächlich stand dieses Gymnasium seinerzeit auf Platz 2  im Ranking aller Gymnasien Schwedens. Das hat mir meine, sehr hoch geschätzte, langjährige Klassenlehrerin Anna Andersson (später Sand) nachträglich berichtet. Die Lehrer dort waren (fast) alle sehr kompetent bis hin zu einem Musiklehrer, der eben die Qualitäten eines Kirchenmusikdirektors besaß. Anna „hatten wir“ 8 Jahre lang praktisch durchgehend in Schwedisch, also Literatur (nicht nur schwedische!) und Texte schreiben, sowie in Geschichte, ein Fach das sie einfach genial beherrschte und herüber bringen konnte. Nach unserem Abitursjahrgang wurde sie Konrektorin. Ich habe sie über 90-jährig zuletzt anlässlich meines 50-jährigen Abitursjubiläums besucht. „Sieger der Kriege schreiben die Geschichte, nicht die Verlierer“ war so eine ihrer denkwürdigen Aussagen.

 

In Göttingen ging es dann 1960 erst mal mit den Musikwissenschaften los. Husmann las über die Epochen der Musikgeschichte, verlor sich dabei aber fast total in Zahlenspielereien. Damit hatte er sich scheinbar einen Namen gemacht. Es ging laufend um Zahlenverhältnisse von Tonintervallen mit denen er letztlich dann aber doch nicht den Charakter der Tonarten erklären konnte, wie er selbst feststellen musste. Ziemlich langweilig war das, aber im ersten Semester ist man doch sehr ehrfürchtig und lässt alles über sich ergehen. Richtig toll fand ich dagegen Boettichers Vorlesung über Romantik und Impressionismus in der Musik und ganz besonders noch sein Proseminar über Tabulaturen, die wir übersetzten. Das hat echt was gebracht. Am Ende des Semesters lud er seine Studentengruppe zu sich nach Hause ein. Er war ein richtiger Technikfreak. Modernste Audioelektronik mit Tonbandgeräten, Lautsprecheranlagen etc.. fand man da und in einer Ecke einen weißen, astronomischen Refraktor mit 60mm Öffnung auf parallaktischer Montierung. Das war damals etwas! Mit dem führte er uns Kühe auf einer entfernten Weide vor, die man mit dem bloßen Auge gar nicht mehr sehen konnte. – Allgemeines Staunen bei den Geisteswissenschaftlern. Er war ein toller Typ fand ich, obwohl er scheinbar eine etwas fragwürdige Rolle in polnischen Bibliotheken im Hinblick auf seine Tabulaturen im 2. WK gespielt haben soll.  Das habe ich natürlich erst sehr viel später anders erfahren. „Beeindruckend“ sein Unvermögen auch nur die einfachsten Motive intervallmäßig rein stimmlich wieder geben zu können. Es klang zum Jaulen, aber man begriff stets, was er meinte. Und dann war da Husmanns Hauptseminar über Messen. „Wollen sie denn da nicht mit machen“? wurde ich vom Hauptassistenten gefragt – ein stets flüsternder, schleichender Typ mit butterweichem Handschlag bei der Begrüßung. Ich bin doch gerade mal im ersten Semester fand ich, aber das wurde vom Tisch gewischt mit der Begründung, dass man schließlich immer etwas lernen könne. O.K., wenn man mich nicht gleich als größenwahnsinnig betrachten würde – gerne doch. Schnell waren so an die zehn Vortragsthemen dort verteilt, nur eines wollte keiner: Mozarts Messen. Ja, Herr Claus, wie wär´s? - Nein, also wirklich nicht, ich muss doch erst mal sehen, was da so erwartet wird in einem Hauptseminar. Ach was, machen sie mal, der Hauptassistent hilft ihnen da schon, so Husmann und alle verließen fluchtartig den Raum. Mir wurde schnell klar, warum niemand das Thema haben wollte, denn ich konnte auch beim besten Willen damals Anfang der 60:er Jahre nicht mal eine einzige Publikation als Übersicht für das Thema in der Universitätsbibliothek finden. Mit dieser Erkenntnis suchte ich besagten Hauptassistenten auf und bekam sofort Unterstützung: einen Berechtigungsschein für Institutszwecke alle Originalpartituren von 15 Mozartmessen ausleihen zu dürfen. So saß ich völlig überraschend mit schön in  Leder gebundenen Folianten der in Steindruck hergestellten ersten Gesamtausgabe(!) vom Anfang des 19. Jahrhunderts plötzlich in meiner kleinen Studentenbude bei Frau Uhlemeier. Das hatte schon echt was, doch: Toll – die Chorstimmen waren alle noch in alten Schlüsseln notiert! Damit hat später sogar Brahms noch kokettiert. Zur Ausführung hatte meine Zimmerwirtin ein altes, ungestimmtes Klavier herum stehen. Wie will ich denn da durch alle 15 durch – in nur den paar Wochen des Sommersemesters? Also wurde der praktische Verstand eingeschaltet. Was kennt man denn da so überhaupt? Na, das Requiem, die Krönungsmesse und die unfertige c-moll Messe, die üblicherweise mit Teilen aus der in C-Dur geschriebenen, letzteren ergänzt wird. Und der Rest? Da kannte ich nichts, rein gar nichts! Also sind die auch nicht so wichtig und es genügt ein repräsentatives Beispiel für diese (Auftrags-) Werke. Ich wählte die kürzeste in B-Dur aus rein praktischen Gründen. Die Hilfe des Hauptassistenten bestand in der Folgzeit aus dem netten Satz: „Sie machen das schon!“ Habe ich auch, und nach meinem Vortrag des Ergebnisses gab es dann auch noch ein dickes Lob von Husmann: genau so müsse man das machen, Schwerpunkte setzen und nicht nur alles chronologisch herunter scrollen, wie einige der anderen Teilnehmer. Das führte dann auch noch zu Tränen bei einem Mädchen – oh, je! Auch vom Hauptassistenten gab es plötzlich verstärkte Zuwendung: Toll hätte ich das gemacht, und „weiter so!“ Auf meine Frage, wie denn die Berufsaussichten für Musikwissenschaftler nach dem Studium aussähen, kam von ihm dann die für mich alles entscheidende Antwort: „Aber lieber Herr Claus, fangen sie doch überhaupt erst mal an!“ – begleitet von einem gönnerhaften Klaps auf die Schulter. Damit war endgültig klar, was ich im nächsten Semester tun würde, nämlich zur Physik, meiner zweiten Leidenschaft wechseln.

 

Tatsächlich hat mich das Semester insgesamt etwas erschreckt: die Typen, die flüsternde Atmosphäre, die etwas verstaubten Räume, Husmann, der in seinem Arbeitszimmer laufend an Schumanns Klavierkonzert herum übte. – Waren die Musikwissenschaften nur eine Ersatzlösung für ihn? Ja, und schließlich die Tatsache, dass ich ohne jede universitäre, fachliche Vorbildung auch noch einen als exemplarisch gelobten Vortrag – im Hauptseminar! – halten konnte. War denn da nicht mehr gefragt? Wie konnte denn mein privater Hintergrund aus Strängnäs durch Norrmann´s Unterricht da schon reichen? Gab es nicht (wesentlich) mehr an methodischem Vorgehen? Tatsächlich erwies sich Norrmann´s Unterricht auch sonst als sehr gut. Das Belegen der praktischen Übung „Kontrapunkt II; (Vierstimmiger Satz)“  beim akademischen Musikdirektor Fuchs brachte mir nämlich auch keine wesentlich neuen Erkenntnisse, außer der Tatsache, dass mir hier und da doch noch Mal eine Quintenparallele unterlief. O.K. aber das kam wohl auch daher, dass er auf einer Notation auf vier Einzelsystemen wieder mit alten Schlüsseln bestand. Wenn eine Wissenschaft nicht mehr viel zu sagen hat, wird sie das in einer möglichst komplizierten Sprache tun. Zu Beginn meines Studiums wurde für das Fach Medizin noch Latein als Eintrittsvoraussetzung verlangt. Heute nicht mehr, man hat genug andere Probleme. (Na gut, Musikhistoriker sollten sich da vielleicht auskennen!)

 

Zweifel an der von mir gewählten Studienrichtung bekam ich aber auch anderwärtig, nämlich in einem Psychologieseminar über Autorität in der Erziehung. Es ging um die Frage der emotionalen Bindung des Kindes an die Mutter, deren Ursache von allen nur denkbaren Seiten „philologisch“ erörtert wurde. Nach einiger Zeit habe auch ich mich dann gemeldet und bemerkt, dass derartige Bindungen durch Konrad Lorenz doch auch schon bei Tieren nachgewiesen wurden. – Eisiges Schweigen, dreißig Gesichter blickten starr in meine Richtung wie auf einen Schwerverbrecher auf der Anklagebank. Dann unterbrach der Seminarleiter die peinliche Stille mit den Worten: „Wollen sie jetzt etwa auch noch den Klammerinstinkt der Affen in diesen Zusammenhang setzen?“ – Allgemeines Gelächter und man wandte sich wieder der „seriösen“ Diskussion zu. Ein älterer Student, der direkt neben mir saß, flüsterte daraufhin leise in mein Ohr: „Sehen sie, ich bin im siebten Semester Mediziner; natürlich haben sie vollkommen Recht mit ihrer Bemerkung, aber so etwas können sie doch hier bei den Geisteswissenschaftlern nicht sagen!“

 

Ansonsten habe ich mich mit 29 (!) Wochenstunden damals so richtig voll gehauen, was mir einen guten Überblick verschafft hat: Philosophie, Psychologie, wie gesagt, ein Anfängerkurs in Latein (für alle Fälle) und „Mensch der Vorzeit“ bei Heberer am späten Freitagnachmittag als Abschluss der Woche. Heberer war damals schon emeritiert und hielt die Vorlesung, in der er auch vieles aus seiner Sammlung zeigte, „nur noch so“. Es war ehrlich beeindruckend, und dass er damals einer der weltweit führenden Köpfe auf dem Gebiet war, habe ich erst viel später bemerkt. In einer Juravorlesung habe ich „schwarz“ gesessen: Die smarte Blonde hatte einen Typen um die Ecke gebracht; die naive Schwarzhaarige wird angeklagt und verknackt. Die clevere Blonde kommt auf freien Fuß, weil sie sich einen geschickteren Anwalt leisten konnte. – Nee, das ist nicht so mein Ding, das  römische Recht! Und schließlich saß ich auch ein paar Mal „schwarz“ in der Anfängervorlesung für Physik morgens früh um 7.30! Es wurde verdunkelt und ein vermutlich noch von Pohl stammendes Modell der Planetenbewegungen fing an UV-beleuchtet zu laufen. Dann kamen die Keplergesetze. O.K. was der da erzählte, war irgendwie doch eh klar, fand ich und dann sollte man vielleicht auch das als Hauptfach endgültig wählen. Gesagt, getan –  in Zukunft also nur noch „wie?“ statt „warum?“

 

Ab November 1960 war ich dann in München für Physik eingeschrieben. Die Musikwissenschaften waren trotzdem nicht vergessen. Immer wieder habe ich verschiedene Vorlesungen bei Georgiades, dem damaligen Halbgott des Faches in München belegt (und auch besucht)! Das führte sogar zu persönlichen Kontakten. Norrmann´s Kritik und Kommentare habe ich seinerzeit nämlich sehr vermisst. Also habe ich mich gleich im ersten Münchner Semester mit einem Notenpacken unter dem Arm aufgemacht um Georgiades in seiner Sprechstunde zu besuchen. Er war ursprünglich Bauingenieur gewesen und hatte dann zur Musikwissenschaft gewechselt. Meine Zweigleisigkeit stieß daher auf viel Verständnis. Seine Ehefrau war Cembalistin und in seinem Arbeitszimmer stand ein Klavichord, auf dem ich ihm vorgespielt habe. Dass ich für dieses „bescheidene“ Instrument schrieb, gefiel ihm sehr „in dieser unserer so plakativen Zeit“, wie er sich ausdrückte. Komischerweise fand er mein Spiel gut – ich nicht. An einen Kommentar allgemeinerer Art kann ich mich noch erinnern: „Was sie da geschrieben haben ist keineswegs großartig, aber doch besser als so manches, was heutzutage gedruckt wird“. Auch war er von einer Passage in einem meiner nicht mehr existenten Streichquartette betont angetan. Er hatte Recht – ich habe sie sehr viel später aus dem Mülleimer der Erinnerung wieder hervor geholt und tatsächlich verwendet.    Wo, das verrate ich nicht. Aber auch Negatives kam da: drei Sätze im gleichen Taktmaß hintereinander, das geht schon gar nicht, u.v.a.!

 

Das Werben von Mitgliedern für Studentenverbindungen war damals vor 50 Jahren vielleicht noch üblicher und häufiger als heutzutage, und so saß auch ich eines Abends unter den Akademischen Musikern beim großen Essen, und das rein zufällig neben einem der Bosse der Musikhochschule. Die Probleme der zeitgenössischen Musik hatten mir ja schon genug Kopfzerbrechen in Strängnäs bereitet, und so nutzte ich die Gelegenheit, die sich mir da bot. Dass Schönbergs 12-Tontechnik nicht das Gelbe vom Ei war, hatte sich ja schon damals zur Genüge gezeigt. Ich glaubte an eine Neuauflage der Polyphonie. Tja, aber das wurde von meinem Gesprächspartner nun auf das Vehementeste bestritten. Auch die Leute drum herum stimmten ihm da alle sofort einvernehmlich zu. – Nur um nicht anzuecken? – Ich weiß nicht mehr genau welche Position und Funktion er hatte.  Überzeugt hatte er mich natürlich in keiner Weise, sein „Nein“ blieb ja völlig unbegründet, stand nur so im Raum! Vielleicht „schrieb“ er selbst etwa „Elektronisches“, wie Stockhausen? Ich hatte dessen „Elektronische Studie II“ der Universal Edition als Partitur schon in Strängnäs noch erworben. Toll ist das sicher als Kinobegleitmusik etwa von Krimis, fand ich – aber auf der Bühne eines Konzertsaals? Geht es nicht primär um zwischenmenschliche Kommunikation bei Musik? Kann ein Tonbandgerät da vorne irgendwie zur Identifikation dienen? Das habe ich nie für möglich gehalten. Hindemith, und besonders aber Strawinsky waren damals die größten zeitgenössischen Komponisten für mich. O.K. jetzt hatte ich noch eine Bestätigung für meinen Entschluss, mich der Physik hauptamtlich zu widmen und mit meinen Überlegungen zur musikalischen Komposition aus dem Strudel der Zeit fern zu halten. Mit einer abweichenden Meinung hätte ich damals eh keine echte Überlebenschance gehabt. Man musste irgendwo mit schwimmen, anders ging es nicht. Wenn schon „elektronisch“, dann nicht nur mit dem Frequenzgenerator herumspielen, wie die damals in Köln, fand ich. - Tonbänder zerschneiden und anders wieder zusammen kleben! - Nein wenn, dann sollte ich mich „richtig“ mit den Geräten auseinander setzen. Die Dinge von Grund auf verstehen, war eine Herausforderung. Ich empfand das echt als Kinderspielerei, was die da z.T. machten. Welchen Hintergrund brauchte man denn dazu außer vielleicht ein bisschen Spaß an der Sache, sowie Beziehungen und Protektion für dieses Tun? Wozu da ein Studium? Da langte ja schon wieder, was ich im Prinzip schon konnte! Wenig später bekam ich dann ein Buch von Romain Goldron in die Hand: „Auf der Suche nach einer neuen Sprache“. Es ist eine sehr schöne Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bis dahin, lediglich der Titel hat mich von Anfang an irritiert, und so habe ich schon damals darunter notiert: „...auf der Suche nach einem neuen Inhalt! Das ist zumindest mein Problem; nicht wie, sondern was ich sage ist entscheidend!“ Damit aber schwamm man extrem gegen den Strom einer Zeit der prächtigen Verpackungen!

 

Wir waren fast 600 Leute in der ersten Mathestunde in München. Man saß in Fensterbänken, auf Treppen und wo es nur ging sonst wo. Ich selbst hatte mit einer Gruppe anderer Kommilitonen bald immer einen kleinen Campinghocker (zusammenklappbar) dabei. Vor der ersten Bankreihe hielten wir uns meist gegenseitig Plätze frei, also direkt zu Füßen der Vortragenden. Man bricht sich da zwar den Hals ab, wenn man etwas auf der Tafel weit da oben erkennen will, und diese ist dazu extrem breit gestreckt und höhenmäßig nur ein schmales Bändchen, aber sonst ging es offenbar. Am Ende des Semesters waren dann gerade noch 200 in diesen Vorlesungen, aber die kannte man dann fast alle und die haben, soweit ich weiß, auch alle letztlich einen Abschluss geschafft. Die Tatsache, dass in einem „Ring“ mit nur zwei Elementen 1 + 1 = 0  ist, hat sehr dazu beigetragen die Reihen zu lichten! Das alles geschah im alten Hörsaal 225 mit engen, knarrenden, dunkelbraunen Bankreihen. Zu einer Renovierung war es nach dem Krieg noch nicht gekommen, und es fehlte massiv an Raum überall. Bei der Suche nach einer Studentenbude traf man (z B. in der Ruppetstraße) schon noch auf den Kommentar: „Na, nördlich da Donau nemma nix“!  Am Bahnhof und in der Lindwurmstraße gab es Trümmergrundstücke und an der Münchner Freiheit war noch ein Rest Bauernhof mit Misthaufen zu sehen, der aber bald verschwand. Von da nahm ich dann morgens die Tram, zwei kleine Wagen mit offenen Balkonen hinten und vorne. Die Fahrt zur Uni lohnte sich schon deswegen, weil es so langsam vorwärts ging. Die Strecke erschien wesentlich länger, als sie war. Auch mit der sagenhaften Linie 37 bin ich noch gefahren. Sie fuhr irgendwann mal ein paar Meter auf allen Hauptstraßen Münchens, ansonsten hauptsächlich aber nur über „Hinterhöfe“ und auf Gassen, die keiner so genau kannte, und die man nachts besser mied. In den viel zu engen Kurven quietschten und funkten die Eisenräder der kleinen Elektrischen in Zeitlupe gegen die Schienen. Sie schrieen laut, Vampire beschwörend mit lang gedehntem Zähneziehen direkt unter den Fenstern der (hart gesottenen) Anwohner. Diese Linie verschwand (leider) auch bald, denn keiner der „moderneren“, also schon voll geschlossenen Wagen war noch in der Lage  diesen abenteuerlichen Weg durch die Hinterwelt zu nehmen. Nach der Anfängervorlesung in Physik in der Früh im Gerlach´schen Hörsaal musste die ganze Ladung schleunigst in die Chemie an der Karlstraße. Da war die besagte Bahn voll! Was das hieß, kann sich heute kaum noch jemand vorstellen. Einmal habe ich wirklich den Test gemacht: Kann man die Füße vom Boden abheben, ohne runter zu rutschen? – beim Stehen im Gedränge versteht sich? Man konnte! Und das hat keiner der Nachbarn auch nur gemerkt. All das sind so Sachen, die nett zum Erzählen sind, aber da musste man echt durch, und dann ist das ganz anders.

 

Die Matheübungen waren wesentlich für das Wochenende vorgesehen. Während Juristen, Betriebswirte, Historiker, u. a.  sich im ASTA und RCDS engagierten, sich die Köpfe heiß redeten über die politische Situation Deutschlands in der Nachkriegszeit etc., etc..., brüteten wir etwa über „Frage 3“: Wenn ( a , b )  ε N   ^  a < b   >   a² <  b². – Punkt, Ende! Ja, schon, aber wo ist da eine Frage? Was zum Teufel soll man denn da „machen“? Und am nächsten Montag früh wandte sich jemand in der Physikvorlesung leise an den Nachbarn: „Hast du das kapiert?“ – „Nee!“ – „Ich auch nicht“, kam es von hinten, und einer vorne ergänzte: „Treffen wir uns doch mal nach dem Essen!“ – „Ruhe, ich will das da über Trägheitsmomente hören“, kam es aus einer weiteren Ecke, und schon am kommenden Wochenende waren wir alle jeweils Teil einer der vielen, kleinen selbst organisierten(!) Arbeitsgruppen. Das hilft nicht nur fachlich, sondern auch psychisch mit der Belastung fertig zu werden, denn der rudimentäre Rest Freizeit, der noch blieb, wurde oft in diesen Gruppen verbracht. Deprimierend aber war die Erfahrung, dass Einzelne sich in den Vorlesungen stets meldeten und den Vortragenden auf kleinere Irrtümer und echte Probleme hinwiesen, Dinge die man selbst gar nicht bemerkt hatte. Nach ein paar Semestern klärte sich das: Es waren Leute, die zum zweiten und dritten(!) Mal dieselbe Vorlesung belegt hatten (anstatt Bücher zu lesen), und das dann wohl nur um sich wichtig machen zu können?! Man stelle sich das vor! Es soll ja auch Leute geben, die sich freiwillig in Staus auf der Autobahn begeben. Einen dieser Leute traf ich später rein zufällig mal in der Astronomie, während meiner Zeit als Doktorand. Er war immer noch mit seiner Diplomarbeit beschäftigt. Eine Zeitbegrenzung gab es damals nämlich noch nicht. Sein Tempo hatte er wohl beibehalten.

 

Im Sommersemester 1963 habe ich mit 22 Jahren das Vordiplom abgelegt und dann ging es gleich weiter mit den Pflichtvorlesungen und Seminaren über Radioaktivität, Plasmaphysik etc.., und vor Beginn der Diplomarbeit habe ich bewusst ein „Pause-Semester“ nur für die Relativitätstheorie bei Mittelstaedt eingeschoben. Zumindest einmal wollte ich eine Vorlesung mit allen Übungen und Klausuren ohne jede Gruppenunterstützung durch ziehen. Das ging recht locker, und es wurde ein besonders schönes Sommersemester , in dem ich viele erbauliche Stunden in der Bibliothek des Deutschen Museums verbracht habe. Auch Heisenberg habe ich in einer seiner Vorlesungen über die viel diskutierte „Weltformel“ damals noch persönlich gehört. Eine ganz hohe Stimme hatte er, sehr freundlich und nett. Die Diplomarbeit im Brandmüller´schen Institut über Kristallgitterschwingungen aromatischer Verbindungen (Benzol, Naphthalin und Anthrazen) war Anfang 1967 abgeschlossen, so dass ich im Juli mit damals 26 Jahren die Diplomprüfung hinter mich bringen konnte. Brandmüller hat mir unmittelbar danach eine Dr-Arbeit angeboten. Das Institut hatte im Sommer 1967 nämlich den ersten Argonionenlaser der LMU erhalten, der mit den Linien 488 nm (blau) und 514,5 nm (grün) als Output betrieben werden konnte. Ziemlich störanfällig war dieses Gerät mit seiner hochfrequenten, induktiven Anregung. Die Industrie hatte noch keine genügend stabilen Materialien für Kathoden zum DC-Dauerbetrieb entwickelt. Die Weihnachtsferien 1969/70 habe ich damals „voll durch“ gemessen. Ausnahmsweise funktionierte mal alles gleichzeitig: der Laser, das Vakuum, die Kühlküvette, die Elektronik und niemand fragte, ob man mit zum Essen will. Ab Januar ging es dann ans „Zusammenschreiben“. In der Physik ist in dieser Situation die Arbeit zu 90%  abgeschlossen. Das Zusammenschreiben ist in dem Sinn regelmäßig nur das Bemühen um eine möglichst gute, verständliche Darstellung dessen was man gemacht hat. (Ich erwähne das hier nur mal, weil es in anderen Disziplinen scheinbar z. T. völlig anders läuft!) Im Juli 1970 habe ich dann mit 29 Jahren promoviert.

 

Wenn man, wie ich damals, auch durch zeitliche Zufälle begünstigt (der Laser!) freies Forschungsneuland betritt, hat man es schnell mit nicht nur fairer Konkurrenz zu tun. Aus diesem Grund möchte ich einige Details meiner Promotionszeit datenmäßig hier noch einmal etwas genauer festhalten.

 

Im Brandmüller´schen Institut hatte man sich seit Jahren mit dem Ramaneffekt beschäftigt, ein Erbe, das Brandmüller seinerseits von Gerlach übernommen hatte. Auch ihn habe ich übrigens noch persönlich gut kennen gelernt, denn ich hatte die Erlaubnis erhalten, meinen Schreibtisch in sein Emerituszimmer zu stellen, um dort in Ruhe arbeiten zu können. Raummangel gab es ja immer noch. Die Geräte standen im größeren Labor, das von allen Institutsangehörigen genutzt wurde. Schwerpunkt der Forschungen lag damals auf den Phasen gasförmig und flüssig, also noch ganz auf der Molekülphysik. Mit dem Laser ließ sich dieses Feld jetzt aber sehr erweitern, und so lautete das „Thema“, das mir Prof. Brandmüller für meine Arbeit im Herbst 1967 nannte wörtlich: „Steigen Sie mal in die Festkörperphysik ein, Herr Claus, die Amerikaner arbeiten da z. Zt. viel an Phononen, da liegt die Zukunft.“  Daraufhin habe ich die aktuellen Bände der „Physical Review“ zur Hand genommen und stieß auf zwei neue Arbeiten, die mich sehr faszinierten: Die Identifizierung longitudinaler Gitterwellen in Quarz durch Scott, Cheesman und Porto (1967) bei den Bell Laboratorien und eine weitere Arbeit zweier dieser Autoren (auch 1967) über sog. „Polaritonen“, ein Begriff den Hopfield wenig früher für Gitterwellen gemischt mechanisch-elektromagnetischen Energiecharakters neu eingeführt hatte. Schon rein naiv betrachtet fand ich beeindruckend, dass man über Streuwinkeländerungen an diesen Moden die Frequenzen „verändern“ konnte, also nicht nur, wie sonst in der Spektroskopie, feste Energieeigenwerte bestimmen. Der Literaturhinweis dort auf Max Born´s Monografie „Dynamical Theory of Crystal Lattices“ und Rodney Loudons Review Artikel über die Situation der langen Gitterwellen in einachsigen Kristallen (Adv. Phys. 13, 1964) bildeten den Grundstock zum Erwerb des theoretischen Hintergrundes. Diesen habe ich mir größtenteils im Winter 1967/68 erarbeitet. Im Sommer 1968 begann ich dann mit eigenen Messungen zunächst am Quarz –  um experimentell den Anschluss zu finden – und dann an u.a. LiIO3, ein damals hochaktuelles Material, das neben LiNbO3 als Kandidat zur Frequenzverdoppelung sehr aussichtsreich erschien. Einkristalline, orientierte Proben davon hatte ich vom Kölner Kristallographen Prof. Haussühl als Empfehlung erhalten. Das sicherte mir einen gewissen Vorsprung den Amerikanern gegenüber, da – wie er mir sagte - seinerzeit nicht einmal die Bell Laboratorien in New Yersey diese Kristalle  in hinreichender Größe für die Untersuchungen herstellen konnten. Ein Großteil meiner Messungen dazu war im Sommer 1969 abgeschlossen und wurden zur Publikation bei der Zeitschrift für Naturforschung mit dokumentiertem Eingangsdatum 13. Sept. 1969 angenommen. Diese erste Arbeit zu dem Thema erschien im Novemberheft 1969 der Zeitschrift, also jenem Monat, in dem seinerzeit das Wintersemester an den Universitäten begann.  Zum ersten und einzigen(!) Mal erhielt nun ausgerechnet in diesem Wintersemester das Brandmüller-Institut die Einladung zu einem gemeinsamen Seminar von einem auch mit Lasern arbeitendem Institut der TU München. Dort wurde am aktuellen Termin dann vorgetragen über die Absicht die Polaritonen an LiIO3 (!) zu untersuchen, also genau das gerade 3 Monate früher von mir schon zur Publikation eingereichte Thema, worauf wir selbstverständlich hingewiesen haben. In der Folgezeit wurden dann über Jahre hinweg vom Chef besagten TU-Instituts die geschilderten Ereignisse jedoch vertauscht in der zeitlichen Abfolge in Fachkreisen verbreitet. Auch wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, Prof. Brandmüller habe mein „Thema“ (s .o.!) einem ihm vermeintlich zur Begutachtung vorgelegten DFG-Antrag entnommen. Brandmüller war zur fraglichen Zeit jedoch nachweislich als Fachmann lediglich für Molekülphysik ausgewiesen, nicht jedoch Festkörperphysik. Was das für die Gutachterpraxis der DFG bedeutet, dürfte evident sein und darüber hinaus jederzeit in den Akten überprüfbar. Das Gerede war Brandmüller mir gegenüber höchst peinlich und für mich und meine Laufbahn wurde es später entsprechend schädlich, sehr sogar! Hat man sich mit einem derartigen Vorwurf als Prominenter nämlich einmal in Szene gesetzt, so bleibt auf Dauer nichts als die Dickköpfigkeit des Dreijährigen, wenn man sich später nicht der Lächerlichkeit preisgeben will. – Na ja, Schwamm drüber, denn wiederum: „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.“ Was bleibt, sind meine recht zahlreichen Publikationen zum Thema. Es stand ja jedem frei sich auch mit diesem zu befassen, und  erfolgreiche Fachkollegen, mit denen ich gute persönliche Kontakte pflegen konnte, hat es etliche gegeben: in  Europa, den USA (dort u.a. Scott & Porto!), sowie Japan, Indien,  der UDSSR und China. Das Institut der TU München war nie dabei. Man darf sich eben nicht ausschließlich auf den Einsatz seiner Mitarbeiter verlassen. Nur andere ausbremsen bringt im Regelfall nicht viel.           --- Warum eigentlich wurden wir seinerzeit eingeladen? ---

 

Direkt nach der Promotion hat man mir eine Assistentenstelle im Institut angeboten.  Nach den einachsigen, kamen dann die orthorhombisch zweiachsigen Kristalle und danach auch das monokline und trikline, vielatomige Kristallsystem dran. Da es für die letzteren beiden noch keine Dispersionsrelation in expliziter Form gab, war das für mich die Gelegenheit jetzt auch einen kleinen Beitrag zur Theorie zu liefern. Es wurde eine entsprechende Verallgemeinerung der Fresnel´schen Gleichung der klassischen Kristalloptik, die nun aber nicht mehr auf ein starres, orthogonales Achsensystem beschränkt blieb, und die vermittels der Beziehung  n = ck/ω den Schritt in die aktuelle  Gitterdynamik der Festkörperphysik erlaubte. Meine Habilitation erfolgte mit 35 Jahren im Februar 1977, wonach dann auch noch die Einbindung der Optischen Aktivität von Kristallen in Analogie zum frühen Born´schen Modell von 1915 ins Polaritonenkonzept  gelang. Tagungsbeiträge in Versailles, Graz, Hannover, Erice, Varenna, Freudenstadt, Bangalore, Taormina, Dresden, Boston, Paris, Freiburg und Campinas / Sao Paulo waren äußere Ereignisse, sowie eine persönliche Einladung ins Lebedev-Institut von Moskau während der Breschnew-Zeit. Die Kollegialität, auf die ich auch da gestoßen bin, war höchst beeindruckend und führte zu Gegenbesuchen in München, sowie Freundschaften, die auch das Ende der Sowietunion überdauerten. Im Jahre 1980 habe ich einen Forschungsaufenthalt am Ludwig Boltzmann–Institut in Wien absolviert. In den Jahren 1981 bis 83 hatte ich die Position eines „Investigador de Tiempo Completo E“ an der Universidad Autonoma de Puebla in Mexico inne. Danach schloss sich nochmals ein Jahr in Wien an, diesmal als Gastprofessor im Kristallografischen Institut der dortigen Technischen Universität. Äußerlich ruhiger wurde es erst 1987, ab wann ich schließlich  als Apl. Professor wieder an der LMU in München endgültig tätig war. Ausnahmen bildeten da nur noch die über etliche Jahre hinweg von mir organisierten astronomischen  Exkursionen für Lehramtskandidaten zum Südhimmel auf die Farm Hakos in Namibia. –  Es gab da parallel nun aber immer noch meine zweite Schiene: das Doppelleben mit der Musik! - Das  etwas näher zu beleuchten, ist jetzt vielleicht noch von einigem Interesse, weil hintergrundmäßig dazu außer den handschriftlichen Noten von mir bisher gar nichts dokumentiert ist. Ich habe da ja über die Jahre bewusst immer ziemlich „gemauert“.

 

Komponieren, warum macht man das? Zunächst als Jungteeny, weil andere das auch gemacht haben und zwar mit so beeindruckenden Resultaten. Später gibt es dann drei Möglichkeiten: 1) Anderes wird wichtiger und man lässt´s, 2) Man wird ehrgeizig und macht es zum Beruf, oder 3) Man tut es immer wieder, weil man es, wie eine Art  Sucht, nicht lassen kann, obwohl man das eigentlich will so nach  dem Motto: gut, vielleicht noch ein einziges, letztes Mal, aber dann ist Schluss – und das dann immer wieder. Letzteres war bei mir der Fall. Dass es tatsächlich doch mal einen endgültigen Schlusspunkt gegeben hat, habe ich ja bewiesen. Allerdings war das sehr viel später als ich es selbst je erwartet hatte. Irgendwie hatte ich immer eine Art imaginären Ziels vor Augen, das ich erst erreichen „musste“. Das klingt jetzt hinterher etwas aufgesetzt, wenn ich das so sage, aber genau so war es. So, wie ich Jahrzehnte  lang von diesem meinem Tun ein Getriebener war, kann ich mich nunmehr relativ ruhig zurück lehnen und das Ergebnis wie ein abgeschlossenes Buch betrachten: Das war´s, und erst das macht es mir möglich jetzt auch darüber zu reden. „Loslassen“ muss man auch können! Ich habe nie in der Hoffnung gelebt mit diesen meinen Sachen irgendwie „groß heraus zu kommen“, oder –  beinahe hätte ich jetzt geschrieben: „die Welt zu verändern“, aber da muss ich mich ehrlicherweise korrigieren. Doch das will ich, genau das!  Ich möchte die Sicht auf die Dinge etwas ändern, primär für mich selbst, und zumindest die Möglichkeit offen lassen, dass mir später vielleicht der eine  oder andere da noch folgt. Dass das nur extrem Wenige sein werden, ist eh klar „in dieser unserer so plakativen Zeit“, wie Georgiades sich ausdrückte. Wer wird denn schon Lust haben sich mit strukturellen Überlappungen naturwissenschaftlichen und musikalischen Denkens auseinander zu setzen? So fand ich von Beginn an die Vorstellung nett, dass meine Enkelkinder vielleicht einmal sagen: Schau mal, so etwas hat der Opa auch noch gemacht. Genau das nämlich weiß ich von meinem eigenen Urgroßvater, dem Vater meiner Großmutter väterlicherseits: Ferdinand, August, Isidor Knabe, geb. 1837. Dieser war Landwirt in Uthleben bei Nordhausen und soll sowohl einen Chor, wie ein Blechbläserensemble am Ort gegründet, und beides mit eigenen Kompositionen versorgt haben. Leider ist mir von ihm keine einzige Notenzeile mehr erhalten, obwohl es die beim Tod meiner Oma Pauline 1954 mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem obersten Boden der Hauptstraße 26 in Uthleben noch gegeben hat. Deren Nachlass musste nämlich seinerzeit (in der Sowjetzone) meine Mutter unter ziemlichem Zeitdruck allein regeln. Dabei ist sie aber auf einen dicken, roten Band (aller) Beethovensonaten der Edition Peters aus dem Jahr 1889 gestoßen, der ursprünglich ihm gehört hat, und den ich daher noch heute besitze. Seine Signatur ist noch auszumachen! Teile der „Pathetique“, op. 13 fallen aus diesem fast ganz lose heraus, woraus ich schließe, dass er zumindest diese gespielt hat. Beethovensonaten waren damals weit draußen auf dem Land zwischen Hühnern, Schweinen, Pferden, Misthaufen und Dreschmaschinen lange vor der Zeit des Radios schon eine Rarität! Sein vom Holzwurm stark angegriffenes Klavier habe ich Anfang der 1950:er Jahre in Uthleben auch noch kennen gelernt. Rechts und links gab es da zwei Kerzenhalter zum ausklappen. Die beiden etwas unterschiedlichen, versilberten Messingständer dazu haben auch überlebt. Das aber ist dann schon alles – leider! Immerhin weiß ich so, dass ich nicht ganz allein mit der Komponiererei in der Familie bin. Wenn Musik berufsmäßig, so habe ich mich allerdings  primär immer als möglichen Wissenschaftler gesehen und nicht als jemanden im praktischen Betrieb. Von meinem 14. bis zum 24. Lebensjahr habe ich neben dem Theoriestudium bei Norrmann, der Gymnasialzeit, sowie der frühen Uni- Studienjahre dem zum Trotz ununterbrochen Musikalisches zu Papier gebracht. Es war ein Experimentieren mit Möglichkeiten von dem ich nie etwas publik gemacht habe, wozu auch? Schwerpunkte bildeten dabei tatsächlich 6 Klaviersonaten, Variationen, ein Trio für Klavier, Cello und Violine, zwei Streichquartette und ein Te Deum für 4-stimmigen Chor und Streicher, sowie viel weiterer Kleinkram. Im Regelfall sah ich gerade fertig gestelltes gleich immer so kritisch, dass ich sofort wieder etwas Neues angefangen habe, nur um endlich mal irgend etwas fertig zu bringen, was ich dauerhaft akzeptieren konnte. Bis auf Rudimentäres ist aus diesen ersten 10 Jahren deshalb auch alles im Papierkorb gelandet – Gott sei Dank! Es geht niemanden etwas an, ist nur eine persönliche Müllkiste meiner Erinnerung in die ich später aber manchmal doch wieder gegriffen habe. Das „wo“ geht auch da wiederum Niemanden etwas an. Es gehört zum Leben, dass man Einiges und Vieles ganz bewusst mit ins Grab nimmt!

 

Irgendwann kommt aber die Frage, ab wann man den „cut“ macht, also nicht nur alles immer wieder weg wirft. Das ist tatsächlich ein schwerer Kompromiss! Ich habe mich dazu mit ca. 25 Jahren entschlossen. Das Cembalo hatte ich als Spieler schon im Dom von Strängnäs kennen gelernt. Dort hatten sie in den 50:er Jahren ein kleines, einmanualiges von Sperrhake, auf dem ich mit wachsender Begeisterung Bachs Chromatische Fantasie und so manches aus dem WK I & II gespielt habe. In München dann ging mir das schon ab. Nun gut, ein Cembalo nur um Bach etwas „originaler“ spielen zu können, schien mir  doch kostenmäßig etwas zu happig, aber ein Klavichord war da doch schon realistischer! Tatsächlich hatte ich mir 1959 in Strängnäs schon eines selber gebaut, das beim Umzug nach Deutschland dann aber (Gott sei Dank) demoliert wurde, so dass ich es guten Gewissens verschrotten konnte. „Gut“ war es nämlich wirklich nicht! Und so habe ich mir 1964 mein kleines Sperrhake Modell 12 zugelegt, dass nun schon fast 50 Jahre lang bei mir geblieben ist, ein echter Volltreffer! (Das Geld dazu stammte übrigens aus Mathe-Nachhilfen für Abiturienten!) Es hat mich anfänglich eine ziemliche Überwindung gekostet auch dafür mal etwas zu schreiben. Man kann doch nicht für reine „Museumsinstrumente“ schreiben!?  Zum Spielen aber saß ich spontan bald nur noch am Klavichord (und später an meinen Cembali). Irgendwie fühlte ich mich da einfach mehr zu Hause, und dabei ist es schließlich geblieben. Klavier und später der Flügel standen meist nur noch „für alle Fälle“ herum. Man hat mich in letzter Zeit auch schon direkt gefragt, warum ich nicht für Klavier geschrieben habe, und was das denn mit dem Cembalo & Klavichord überhaupt so soll? - Das Klavier ist ein tolles Instrument. Ich höre es gern, wenn es von anderen gespielt wird, mich persönlich aber schreit es immer zu sehr an. Für Cembalo & Klavichord gibt es heutzutage ja wirklich jede Menge elektronischer Möglichkeiten der Verstärkung, wenn man das will, und die befürworte, bzw. verlange auch ich für meine Sachen in größeren Räumen, so wie ich es selbst schon praktiziert habe. Meine Affinität zu gerade diesen Instrumenten aber war von Anfang an rein emotional, also niemals irgendwie „berechnet“. Mag sein, dass das an meiner starken Affinität zu Strukturen generell liegt. Die dynamischen Möglichkeiten dieser Instrumente sind gering, um nicht zu sagen rudimentär beim Klavichord, das ja fast nur ein Instrument für Denkanstöße ist. Ein Klangfarbenwechsel ist beim Cembalo noch gut durch Registrierungen möglich, und das auszunutzen, darum möchte ich beim eventuellen Spiel meiner Kompositionen doch auch sehr bitten – alles inklusive 16“, falls vorhanden! Zwar liebe ich meine Ruckersdisposition, betrachte sie aber keinesfalls als das Maß aller Dinge. Ja, und warum habe ich dann letztlich doch für „Museumsinstrumente“ geschrieben? Erstens sind diese, die meinen am besten geeignet um Strukturen zu realisieren, etwas das schließlich mein Hauptanliegen war. Zweitens aber verstehe ich die Frage inzwischen selbst nicht mehr so richtig. Trompeten, Oboen und Streichinstrumente gibt es doch auch schon seit Jahrhunderten und niemand betrachtet das zeitgenössische Komponieren für diese als „museal“. Aus der Tatsache, dass nur äußerst Wenige (Ligeti, Xenakis u.a.) im 20. Jahrhundert für die tollen, stimmfesten Neukonstruktionen von Cembalo und Klavichord etwas geschrieben haben, kann man doch mir keinen Vorwurf machen! Vielleicht gibt es generell so wenig Sololiteratur für diese Instrumente, eben weil sich auf ihnen fast nur durch gute Strukturen „Ausdruck“ überhaupt erreichen lässt? Vielleicht ist der Komponist hier einfach zu speziell gefordert, oder man empfand es als ein undankbares Metier, weil es für diese Instrumente keine Analoga zu den etablierten Klavierabenden gibt? Die Chance für konzertante Aufführungen ist zu gering, es „lohnt“ sich einfach nicht! Vielleicht war es das?

 

Meine Opuszahlen habe ich erst ganz am Ende 2010 hinzugefügt. Sie dienen der schnelleren, auch zeitlichen Orientierung, Als Nr.1 steht da jetzt eine Sammlung zwölf polyphoner Stücke, die alle 12-tönige Motive besitzen, sonst aber nicht weiter seriell geschrieben sind, andererseits aber auch nicht irgendwie streng kadenzgebunden. Den Begriff „funktional bzw.  tonal“  lediglich an der Existenz von Dreiklängen ohne deren eindeutigen, relativen Bezug fest zu machen, halte ich für problematisch, legt doch deren Vorhandensein etwa in einer Zwölftonreihe, wo sie (zumindest gehäuft) aus diesem Grund unerwünscht sind, noch keine eindeutige Tonart fest. Neben einer ev. spontan suggerierten Tonika, könnte es sich ja genauso gut jeweils um eine Subdominante, Dominante, deren Parallelen o.ä. handeln. Ich habe in diesen zwölf Stücken Dreiklänge nur im Sinne von Konsonanzen, nicht jedoch gezielt funktional verwendet. Dass das dann gelegentlich aber doch dahin tendiert, ist also eine rein zufällige und nicht zielgerichtete Angelegenheit. Es wäre genauso stupide solche „Anklänge“ systematisch zu verhindern, wie es meiner Meinung nach überzogen war Dreiklänge bei 12-Tonreihen in bekannter Weise auszuschließen. Hier differenziere ich gern genauer Atonalität im Sinne von „nicht tonartgebunden“ und Antitonalität im engeren Sinne dessen, was historisch vor 100 Jahren gemacht wurde.

 

Die (4-stimmige) Urfassung des ersten Stücks in diesem „Dodekatonischen Zyklus“ war in der Tat das erste Stück, was ich probeweise mal für das Klavichord geschrieben habe. Auch deshalb habe ich mich genau hier für den „cut“ entschieden. Das Stück, sowie auch das letzte der zwölf besteht aus zwei Teilen, die exakt tastenspiegelbildlich gesetzt sind. Stellt man seitlich einen Spiegel auf, so sieht man also die jeweils andere Hälfte des Stücks dort gleichzeitig gespielt. U. a. werden so Dur- und Moll-Dreiklänge  systematisch, spiegelbildlich vertauscht. Das Thema, „meine kleine Erdkröte“ habe ich immer sehr geliebt, noch ein Grund, warum das Stück nicht schon früher im Papierkorb gelandet ist. In der Originalfassung stellt dieses Thema das Muster alter Musik symbolisch dar: Höhepunkt am Anfang mit abfallender Linie und in der Umkehrung das der Romantik: Steigerung mit Höhepunkt am Ende. Irgendwie ist es das Motiv meines Lebens geworden, das dann auch abschließend op. 23–27 wesentlich mit geprägt hat. Der Zyklus hört sich spontan sicher etwas befremdlich und harmonisch zunächst chaotisch an, weil ihm einerseits die altbekannte „Grammatik“ der Kadenz systematisch fehlt, andererseits aber auch kein neues, vernünftiges Vorgehen dort auf Anhieb erkennbar ist. Letzteres lässt sich erst mit Hilfe der melodischen Linien finden, aber dazu braucht es etwas Geduld und guten Willen. Das geht nicht sofort beim ersten Mal Hören. Ich habe, wie schon gesagt, lange gezögert, ob ich diese Fugen nicht doch auch noch im Papierkorb enden lassen sollte, sie aber dann nach einer Überarbeitung vier Jahre später mit einigen Bedenken stehen lassen. Eine gewisse Gefahr besteht bei Instrumentalfugen dieser Art ja  immer durch den sich aufdrängenden Vergleich mit entsprechend formvollendeten Meisterwerken der Vergangenheit. Anhand dieser 12 Stücke habe ich lediglich nach Alternativwegen für die alte Polyphonie gesucht ohne sie wirklich zu finden – so in this sence let it be!

 

Grammatik ist zum Verständnis eines Textes stets erforderlich – ja und nein! Betrachtet man die Kadenz ev. mit einfachen, eingeschobenen Modulationen zur Dominantentonart und zurück in diesem Kontext, so erklärt sich schnell die große Popularität der aufgemotzten sog. „Volksmusik“ entsprechender, bekannter Radio- und Fernsehsendungen. Im Grunde genommen hört man da immer wieder nur dieselben „harmonischen Trivialaussagen“, die man längst schon kennt zu Rhythmen einfachster, sicherer Taktgebundenheit. Man weiß immer, „was kommt“! Einzig die anspruchslosen, nicht mehr als die Akkorde verbindenden „melodischen“ Linien bringen (ev. neben dem Outfit der Interpretin) eine minimale Variation, also etwas meist kaum wahrnehmbar Neues von Stück zu Stück. Es ist wie das ständige  Zitieren ausgeleierter Lebensweisheiten der Art: „Man wird halt nicht jünger“, o.ä. Das nämlich sichert unmittelbar Einverständnis, und weckt keine Aggressionen durch Zumutung von Unbekanntem. Es kann aber auch schnell Langeweile erzeugen. - Gedichte leben häufig von Grammatikbrüchen, wie fehlenden oder falschen Verben, sinnvertauschten Adjektiven o. ä. Sie leben vom aktiven Mitdenken des Lesers bzw. Hörers. Es läuft ganz ähnlich, wie bei Witzen oder Kabarettisten. Auch sie riskieren nicht verstanden zu werden. In dieser Richtung wollte ich damals harmonisches Denken generell einmal etwas austesten.

 

Die Passacaglia, das zweite Opus, habe ich insgesamt drei Mal geschrieben. 1960 ganz im alten Stil des Fitzwilliam Virginal Book, 1964 geändert in 4/4 Takt(!) als echt bombastisches, vollgriffiges Klavierstück, und schließlich 1968 die Cembalofassung, die endgültig überlebt hat. Op.2 reicht also am weitesten in die Wurzeln meiner Vergangenheit zurück. Bis hin zum op.7 habe ich mich dann einmal so durch alle wesentlichen, alten Formen für die Tasteninstrumente hindurch geschrieben, und da wollte ich ursprünglich wieder mal den Schlusspunkt setzen, wenn denn nicht genau da wieder Brandmüllers Vorlesung im Studium Generale gekommen wäre, die mich in das Thema Symmetrie in der Musik ganz heftig neu hinein geworfen hätte. Schubnikovs Bandornamente wurden mir damals nämlich erstmals als optische Parallelen zu notierten Notensystemen bewusst.

 

Der musikalische Begriff „Krebs“ ist nichts anderes als eine Spiegelung in Richtung der Zeitachse, die „Umkehrung“ entsprechend eine Spiegelung in Richtung der Vertikalen (pitch), und das Symmetrieelement der Rotation wurde in der Musik im Sinne von Drehen des Notentextes um 180° schon von etwa Mozart oder später Hindemith ganz explizit und nicht nur lokal verwendet. – Die Frage ist hier nicht mit welcher künstlerischen Intention, sondern nur „ob“! - Da die Translation schließlich nichts anderes als eine Wiederholung in der Zeit, oder auf anderen Intervallstufen musikalisch gesehen ist, ließen sich also letztlich alle Grundbegriffe kontrapunktischer Satztechniken der Musik lückenlos mit solchen der Gruppentheorie gleichsetzen. Die Gruppentheorie  ihrerseits liefert nun aber das abstrakte, mathematische Rüstzeug zur Analyse von Strukturen beliebiger Art mit Hilfe von Symmetriebetrachtungen. Es war in all den Jahren  recht schwierig für mich diese erweiterte Sichtweise Musikern näher zu bringen. Man möchte sich ungern „von außen“ in die eigene Begriffs- und Vorstellungswelt herein reden lassen, kapselt sich hier am liebsten vollständig ab. Oft hat es mich an mein Erlebnis seinerzeit im Göttinger Psychologieseminar erinnert. In seinem Sammelband: „Die andere Intelligenz;  Wie wir morgen denken werden“ hat Bernhard von Mutius (als Herausgeber) deutlich demonstriert, wie das grenzüberschreitende Denken zwischen verschiedenen Disziplinen im aktuellen Jahrhundert den Fortschritt bestimmen wird. Recht prägnant, auch auf die Musik zutreffend schreibt er dort in der Einleitung: „Neu anfangen hieße, nicht mehr der Vorstellung einer Avantgarde zu folgen, die im Bewusstsein des richtigen Weges anderen kühn vorauseilt, sondern sich bewusst auf den überaus schwierigeren und konfliktreicheren Dialog mit anderen einzustellen.../ Neu anfangen hieße Berührungsängste und unfruchtbar gewordene Abwehrhaltungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der Intelligenz – z. B. zwischen der traditionellen literarisch-kulturellen Intelligenz auf der einen und der neueren, techno-ökonomischen Intelligenz auf der anderen Seite – abzubauen.“ Es ist vielleicht bezeichnend, dass sich an diesem Werk kein einziger Musikwissenschaftler beteiligt hat, bildende Künstler und Literaten dagegen schon.

 

Brandmüller wollte damals in seiner genannten Studium Generale-Vorlesung über Symmetrie in Kunst und Wissenschaft gern die Parallele zwischen Bandornamenten und der Notation musikalischer Abläufe demonstrieren. Tatsächlich ließ sich das problemlos durch Beispiele allein schon aus dem Wohltemperierten Klavier für die 7 einseitigen Schubnikov-Gruppen  realisieren. Bei den 31 zweiseitigen/zweifarbigen Bändern dagegen wurde es schwierig bis unmöglich in etwa Gleichwertiges als Demonstrationsmaterial zu finden. Deshalb bot ich an entsprechende Zweizeiler speziell für diese Vorlesung zu schreiben. (Dass ich damals noch eine „Einleitung“ für sinnvoll hielt, entsprach einer gewissen Unbeweglichkeit, also nur rein konservativem Denken.) Ziel war gewissermaßen der „Beweis“, dass sich diese 31 Gruppen musikalisch tatsächlich direkt umsetzen lassen. Das wurde in Diskussionen damals nämlich nicht selten bestritten! Wir hatten erwartet, dass das Ganze in etwa den Eindruck eines gelesenen Telefonbuchs machen würde, und mehr war ja auch nicht nötig im Zusammenhang, waren beide aber überrascht, dass es ausdrucksmäßig letztlich doch wesentlich darüber hinaus ging. So habe ich dieses op. 8 dann auch noch auf einem Symmetriesymposium in Wien im April 1978 aufgeführt und erläutert. Dort wurde es, wie beabsichtigt ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und Kunst, ein Beispiel für die Symbiose von Ratio und Emotion.

 

Angeregt durch dieses Ergebnis habe ich mich in den folgenden etwa 10 Jahren dann systematisch damit beschäftigt, Strukturen, die die Gruppentheorie bereitstellt, musikalisch umzusetzen. Es tauchen ab da bei mir nie mehr irgendwelche der herkömmlichen, musikalischen Gattungen als alleiniges, Struktur bestimmendes Konzept auf. Es schien mir, als sei ich plötzlich aus einer umzäunten Weide in die freie Wildbahn gelangt. Ganz entscheidend war für mich aber dabei das Bewusstsein, dass all diese Strukturen auch anderwärtig in der Welt Entsprechungen haben, es also Bilder dieser Welt waren, die ich da schrieb und nicht lediglich subjektive, rhapsodische Halluzinationen, die es ja schon zur Genüge in der Musik gibt. – Kann man nicht auch  Fugen mit geflochtenen, statt immer nur parallel laufenden Stimmen schreiben? Wie lassen sich „Homöometrien“  musikalisch umsetzen? Wie wäre es statt „Allegro, Adagio, Presto“ die Symmetrieelemente selbst zum Thema von Sätzen zu machen: „Rotationen, Translationen, Spiegelungen, Inversionen“?  Der Goldene Schnitt in der Verallgemeinerung der Fibonaccireihe war ja tatsächlich auch schon Musikern in den Sinn gekommen, aber die drei Negationsformen: „Dissymmetrien, Asymmetrien und Antisymmetrien“ kannte doch kaum jemand von ihrer Bedeutung her, und auch die 11 homöometrischen Bandornamente warteten nur so auf eine musikalische Umsetzung. All das lief rein satztechnisch inzwischen für mich parallel mit einer (sehr subjektiven) Auseinandersetzung mit der 12-Tontechnik. Die 8 Modi einer Grundreihe drängten sich in diesem Zusammenhang als Werkzeug geradezu auf.

 

Dass mit der spätromantisch/impressionistischen Harmonik allein praktisch nur mehr Wiederholungen zu erreichen waren, hatte ich inzwischen nun auch aus eigener Erfahrung gelernt. – Und was anderes ist heute fast die gesamte Popmusik? Ihren Sinn hat diese inzwischen auch wo anders gesucht und gefunden, nämlich im primär kommunikativen Gesangsbereich. Die reine Instrumentalmusik ist dort z. Zt. nur sehr schwach vertreten! - So ganz überflüssig fand ich deshalb meine frühen Versuche im Nachhinein dann aber doch auch nicht mehr, denn für Cembalo und Klavichord hatte in der fraglichen Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts meines Wissens sonst ja niemand etwas geschrieben. Nur Wiederholungen von Althergebrachtem waren es letztlich also nicht, und so je ein Beispiel alter Gattungen sei da gerade noch erlaubt!

 

Blättert man weiter im „Schubnikov“, so kommt nach den „Bändern“ die Besprechung der 17 einseitigen und 80 zweiseitigen Flächenornamente. Zunächst einmal scheint musikalisch hier die Grenze erreicht zu sein. Andererseits wäre es für die Musik doch ein Armutszeugnis da zu kapitulieren, wo bildende Kunst, Architektur und selbstverständlich die Naturwissenschaften noch voll präsent sind. Ich habe mir diesen nächsten Schritt wirklich nicht leicht gemacht. Natürlich sind Notenseiten strukturierte Flächen, aber hat diese doch rein zufällige Struktur irgendeinen grafischen Sinn? Man muss ja nur verschiedene Ausgaben ein und desselben Werkes vergleichen, um das kategorisch zu verneinen.

 

Es ist der Punkt, an dem man auch einmal grundsätzlich den Sinn von Musik kurz reflektieren sollte. Dass heutzutage Musik vor allem zur Vermittelung von Emotionen dient, bestreitet wohl niemand (auch ich nicht). Dass hinter Musikstücken aber stets knallharte Ratio steckt, ohne die niemals etwas „herüber gebracht“ werden kann, ist gleichfalls unumstößliche Tatsache: gut gestaltete Rhythmen, melodische Linien, Harmonik, zeitlicher Ablauf und Handwerk des Instrumentalspiels erfordern alle ein hohes Maß an rationalem Denken, bevor so etwas wie Emotionen überhaupt ins Spiel kommen kann.  Es ist so wie mit der Hardware und Software unseres Gehirns: Letztere ist ohne Erstere nicht existent. Im Altertum bis zur Renaissance, ja bis in die Barockzeit hinein zählte die Musik zu den Wissenschaften – und man sprach von algebraischer Kunst! „Komponieren bedeutet für mich eine gewisse Zahl von Tönen nach gewissen Intervallbeziehungen zu ordnen“ ist ein bekannter Satz von Igor Strawinsky. Auch vertrat er die Ansicht, dass Musik an sich nichts „ausdrücken“ könne. Ich stimme dem (nach nunmehr vielen Jahren der Erfahrung) voll und ganz zu, möchte dem aber etwas Wesentliches hinzu fügen: Musik kann Assoziationen wecken. Wir verbinden Musik mit Erlebtem, mit Gefühlen, und zwar primär aus einer frühen „Prägungsphase“ – auch hier! Ich will das jetzt gar nicht durch Beispiele auswalzen, aber wer nur „rum-ta-ta“ oder  ganz einfach „Krach“ bis zum 20. Lebensjahr gehört hat, wird später fast nie den Zugang zu sinfonischer Musik finden, sie meist nur für „Verkopftes“ halten und Liebhhaber derselben für Wichtigtuer: „Dass das nur antiquiert-langweilig ist und nichts bringt, hört man doch! Stimmt´s oder hab´ ich Recht?“

 

Wenn also Notenseiten von Haus aus u.U. nur zufällig einen grafischen Wert haben – der Beginn von Bach´s E-Dur Partita für Solovioline ist so ein Beispiel – schließt das doch nicht aus, dass man diesen Sinn gezielt herbeiführen könnte! Entscheidend war für mich das Vorbild des Fernsehens. Eine strukturierte, elektromagnetische Welle wird vom Sender zum Empfänger transmittiert als ununterbrochener, zeitlicher Vorgang. Beim Empfänger wird diese „Linie“ dann sinngemäß in gleich lange Stücke zerschnitten, die untereinander angeordnet zu einer Fläche, letztlich ein (digitalisiertes) Bild ergeben. Schneidet man falsch oder wählt man nicht genau die richtige Anzahl von Zeilen für die Fläche, so flimmert das Bild. Die Sache funktioniert nur, wenn man es genau richtig macht. Wir Alten kennen dieses Problem noch aus der Kinderzeit des Fernsehens. – Die gehörte Musik entspräche der elektromagnetischen Welle, die korrekt geschriebene Notenseite dem Fernsehbild, das letztenendes auch ziemlich stark in die endgültige Gestalt erst transformiert werden musste. – Nette Spielerei, doch schon, aber was bringt das? - Zunächst mal ganz einfach eine neue Erfahrung an sich, letztlich vielleicht aber doch auch etwas mehr, nämlich eine künstlerisch gestaltete Parallelerfahrung zum Problem des Welle-Teilchen Dualismus für das Verständnis des Mikrokosmos in der Physik. Beides, Materiewelle und Teilchen sind Bilder, „Darstellungen“ etwa eines Elektrons. Sie widersprechen sich zwar in unserer Anschauung, haben aber dieselbe Bedeutung. Es steckt dasselbe dahinter, z.B. das Elektron eben. Und um was geht es bei meinem op. 16 für das Klavichord und 18 für zweimanualiges Cembalo? Sind das primär Musikstücke, oder primär Grafiken? Beides ist gleichwertig, es sind zwei sich widersprechende Darstellungen jeweils ein und derselben „Idee“, nämlich einer (dissymmetrisch gestörten) Symmetriegruppe. Es sind Objekte, die die Fantasie in dieser Richtung anregen können, wenn man denn will. Die 17 einfarbigen Ornamente ließen sich perfekt auf dem Klavichord gestalten. Diese habe ich später dem Kristallographen Prof. Anton Preisinger gewidmet, der mich seinerzeit zu meiner Gastprofessur an die TU Wien eingeladen hatte. Ich habe sie anlässlich der Feier zu seinem 50-jährigen Dr.-Jubiläum am 22. März 2003 im Palais Eschenbach in Wien (mit elektronischer Verstärkung des Instruments) gespielt. Ob ich die 80 zweifarbigen Schubnikov´schen Flächenornamente - dann natürlich für zweimanualiges Cembalo, zwei Klangfarben! –  wirklich auch noch in Angriff nehmen sollte, hat mich damals sehr beschäftigt. Es ist ja eigentlich Wahnsinn! Fast ein Jahr gedanklicher Vorarbeit hat es bedurft, bis mir ein plausibler Aufbau des Ganzen für ein „Gesamtwerk“ da klar geworden ist. Auch eine mögliche Realisierung ist ja höchst problematisch, wegen des Umfanges. Einen denkbaren Vorschlag dazu habe ich dem Notentext beigefügt.

 

Gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit an diesem op. 18 habe ich auch mit einem ganz  anderen Projekt begonnen, der Beschäftigung mit den Texten der Apokalypse. Das klingt jetzt dramatisch, ist es aber nicht, wie schon die ersten Seiten dieser meiner Gedanken zeigen. Dass es eigentlich nur eine persönliche Apokalypse für jedes einzelne Individuum gibt, - u. U. auch für viele gleichzeitig - haben sogar schon Theologen in  ihren Schriften formuliert. (Ich habe da so einiges erst mal gelesen.) Beeindruckend ist aber, dass apokalyptische Vorstellungen in fast allen Kulturen vorkommen. Mit der der Maya und Azteken bin ich recht lebensnah während meines zweijährigen, beruflichen Aufenthalts in Mexico konfrontiert worden. Verwunderlich ist es jedoch, dass dieses Thema so wenig  Umsetzung in der abendländischen Musik erfahren hat. Makabere Themen, wie Passionen und Kreuzigungen sind doch sonst so beliebt! Man kommt eben vielfach nicht über das Stadium der Imitation als Komponist hinaus – pardon! Auch das zentrale Gedankengebäude des Neuen Testaments, die Bergpredigt führt in dieser Hinsicht das Dasein eines Mauerblümchens, vermutlich weil auch das in der Vergangenheit noch kaum jemand „gemacht“ hat. Kultur ist eben doch nur, „was schon mal da war“ – auch das nicht neu, aber jetzt genug davon. Ich wollte den apokalyptischen Gedanken als solchen nur zur „Diskussion“, für die eigene gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema „bereit stellen“. Zwei Solostimmen aus verschiedenen Richtungen ohne Verstärkung und nur ein einzelnes Cembalo, das jedoch elektronisch verstärkt im gesamten Kirchenraum gleichzeitig präsent ist, war meine Vorstellung (konkret für den Strängnäser Dom). Die Texte werden nur zitiert, nicht (emotional) interpretiert, und der Aufbau des Ganzen ist symbolisch gelehnt sowohl an die vier Maya-Tlalpilli, die Trinität des christlichen Glaubens, sowie an die aus den vergangenen sieben Jahrhunderten überlieferte, europäische Tastaturmusik, wenn ich das mal so allgemein bezeichnen darf 4 + 3 = 7! Ewas ganz anderes als das übliche: „Soli, Chor und Orchester“ hat mir vorgeschwebt, etwas spannend Neues eben. Und dass das möglich ist, anders als nur wieder durch die Steigerung von bereits Bekanntem, wollte ich auch mal wissen.

 

Dieses op. 19 ist das einzige, das ich bisher nicht durch eine eigene Bandaufnahme zumindest „dokumentiert“ habe. Als „Interpretationen“ möchte ich alles Übrige aber auch nicht bezeichnen, dafür bin ich als Instrumentalist nicht versiert genug. Es sind halt Hinweise, in welcher Richtung ich mir die Realisierung am Instrument grundsätzlich gedacht habe. Vielleicht kann ich mit diesen Aufnahmen aber zumindest die (seit jeher) verbreitete „Rennstallmentalität“ verhindern. Jeder Ton muss pieksauber zu hören sein, denn auch schon jede Oktavverdoppelung habe ich mir wirklich dreimal überlegt, bevor ich mich dazu durchgerungen habe! Im Falle des op. 19 ist die Sache der Ausführung aufgrund der engen Anlehnung an die Stile der verschiedenen Jahrhunderte aber auch so recht klar, es bedarf deshalb keiner großen Erklärung. Irgendwie ist er immer wieder etwas wehmütig, dieser Blick zurück auf Zeiten, die nie wieder so sein werden.  ---                Übrigens sind die Tempi schon durch die Textzitate recht eindeutig zu finden!

 

Und jetzt komme ich zu meinem letzten großen Projekt, das mit den Natürlichen Zahlen: N.  Gegärt hatte das schon lange im Laufe der 90:er Jahre im Unterbewusstsein, bevor ich ziemlich genau um das Jahr 2000 konkret begonnen habe daran zu arbeiten. Renate, meine zweite Ehefrau, promovierte Musikwissenschaftlerin von ihrer Ausbildung her, hat da einen starken äußeren Motivationsschub bewirkt. Vielleicht hatte ich die längere Kompositionspause in den 90:er Jahren als Anlauf zu diesem Berg nötig. -  Was also war die Idee?

 

Die Primfaktorenstruktur der natürlichen Zahlen setze ich als bekannt voraus. Ebenso, dass die Systematik dieser Struktur trotz der Anstrengung bester mathematischer Köpfe seit der Antike bis dato ungelöst blieb. Es handelt sich um das berühmte, offene Grundproblem der Zahlentheorie. Einerseits ist das Zählen die Grundlage unserer quantitativen Logik, ohne die keine Physik, keine erfolgreiche Beschreibung der Natur – was immer das heißt – möglich ist. Andererseits verstehen wir den logischen Aufbau genau dieser Grundlage eben nicht, können ihre Struktur bisher nicht logisch erfassen. Das ist gespenstisch, vielleicht sogar beängstigend. Gehen wir auf dünnem Eis, das vielleicht einmal bricht? Ich wollte diesem großen Geheimnis der Welt lediglich etwas näher treten ohne mir aber einen Klärungsversuch anzumaßen. Ich wollte es im nur  endlichen Bereich, entsprechend meiner auch endlichen physischen Existenz im Leben,  als musikalisches Erlebnis emotional darstellen - vielleicht einmal anders als sonst bewusst machen, interpretieren, betrachten - nur das.

 

Musikalisch gesehen handelt es sich um die größte denkbare, vielleicht ultimative, weil unendliche, offene Form eines Variationssatzes, der mit meinen op. 23 – 27 als explizites Beispiel den zeitlichen Umfang von über 5 Stunden angenommen hat. Zehn Jahre meines Lebens (die besten!) habe ich mich dieser Pentalogie gewidmet. An den Positionen der Primzahlen in der Abfolge der knapp 200 Einzelabschnitte treten stets neue Gedanken auf, die bewusst nichts mit dem zu tun haben, was schon war. In allen Stücken an den übrigen Positionen werden dagegen Gedanken aufgegriffen, die den entsprechenden Primfaktoren aus der Vergangenheit der zeitlichen Abfolge zugeordnet waren. Nr.6 ist also eine Symbiose aus Nr.2  und Nr.3;   Nr.42 greift auf die früheren Primzahlenstücke 2, 3, und 7 zurück;  Nr.9 , wegen 3x3 in doppelter Hinsicht auf die Nr.3,  u.s.w...  Im Prinzip ist diese Form, wie gesagt unendlich und offen. Der Abbruch wurde willkürlich von mir gesetzt, ohne zwingende oder logische Begründung - wie der Tod. Musikalische Basisgedanken des Ganzen bilden strukturbedingt die niedrigsten Nummern 2, 3, 5, 7, etc.., weil sie in jedem zweiten, dritten, fünften, siebten Stück etc... eine (motivische) Rolle spielen, während höhere Primzahlen lediglich einen den Fluss unterbrechenden Charakter annehmen. Variationssätze mit einzelnen, „fremden“ Momenten als Unterbrechungen sind ja auch schon aus der klassischen Literatur bekannt. In diesem Fall wird ein der Primzahlenfolge entsprechender Rhythmus  daraus, der aber gerade deshalb (bislang) nicht „berechenbar“ ist. Folgt man dem Weg dann lange genug, werden aber auch diese Unterbrechungen schließlich wieder Teil der gestaltenden Systematik.

 

In op. 23 ist dies zunächst noch das alleinige Strukturprinzip. Op. 24 – 27 habe ich als Doppelstrukturen bezeichnet, weil ich dem Primfaktorenrhythmus jeweils eine weitere „klassische“ Struktur übergeordnet habe, vielleicht als Reverenz an die Geschichte. So spielt der assoziative Gedanke an konkrete, äußere Ereignisse, bzw. Eindrücke im Sinne der Romantik eine weitere prägende Rolle in der kleinen Sammlung op. 24.   Im op. 25 begrenzen die Primzahlen 73 und 79 den ersten „Satz“ einer als Sonate bezeichneten Trilogie (mit quantenmechanischen Resonanzzuständen!), während translatorisch, symmetrisch 83 und 89 dasselbe für deren letzten Satz tun. Dieser spezielle Primzahlenrhythmus kommt relativ selten vor und bot sich hier dazu  passend an.  Die innere, formale Logik des Aufbaus der Sätze, auch die des mittleren, für Klavichord geschriebenen, folgt weiterhin aber nur der durchgehend laufenden Primfaktorendarstellung der natürlichen Zahlen, hat also nichts gemein mit dem formalen Aufbau irgendwelcher Sonatensätze der bisherigen Literatur. Nur deshalb habe ich auch den doch sehr überstrapazierten Namen „Sonate“ selbst einmal verwendet; es ist eben keine im herkömmlichen Sinn!  Ähnliches gilt für den als Mutationen bezeichneten Zyklus op. 26. Der Name ist kein „Gag“, sondern Programm!  Das 16-taktige Einleitungsstück taucht jeweils wieder auf bei den geraden Ziffern des Zyklus, also an jeder zweiten Stelle und zwar schrittweise mit immer einem Takt mutatorisch, also irreversibel für die Zukunft verändert. Das letzte, 31:ste Stück des Zyklus steht also einerseits für das, was die Evolution mit der Zeit aus Gegebenem macht, andererseits lässt es sich aber auch als Bild des gereiften Alters gegenüber der Jugend am Anfang lesen. Die ungeraden Ziffern sind das Schicksal, mit dem wir so konfrontiert werden.   Das Ganze habe ich deswegen auch dem Leben schlechthin gewidmet. Im weitesten Sinn gesehen handelt es sich formal auch bei op. 26  also  um eine Art Variationsstruktur. Dadurch, dass das Jahr 2007, in dem ich wesentlich an diesem Zyklus geschrieben habe, von den Todesfällen dreier naher Verwandter überschattet war, ist op. 26 etwas sehr Persönliches, Privates für mich geworden; die Ereignisse haben dort Spuren hinterlassen!

 

Den abschließenden Zyklus op. 27 habe ich nur noch der Zeit gewidmet, dem Blick auf größte zeitliche Abläufe von der inflationären Phase  (der Astronomie) über die plötzliche Galaxienbildung bis hin in die Gegenwart auf uns selbst. Ich kam mir beim Schreiben dieses op. 27 vor wie jemand, der es endlich hoch auf einen Berg geschafft hat, und der nun einmal den Blick in die Weite, vielleicht auch die Zukunft schweifen lässt. – Klingt kitschig, war aber so. Ich hatte das Gefühl danach musikalisch Nichts mehr sagen zu müssen, und das werde ich auch nicht. Dass ich modulatorisch bezüglich einer der beiden, die gesamte Pentalogie prägenden 12-Tonreihen eine Art „Rotverschiebung“ mit Ω = 1  in op. 27 eingebaut habe, will ich nur erwähnen. Physiker werden es kaum finden, Musiker werden es kaum verstehen (wollen). Sei´s drum! – Möge Selket das Ganze schützen vor gedankenlosem Zugriff.

 

Mein Leben geht trotzdem weiter. Deshalb möchte ich jetzt wieder auf den stabilen Boden des Handwerks zurückkehren. Was ist ab op. 8 damit bei mir geschehen? Was war meine persönliche Konsequenz aus der Beschäftigung mit der 12-Tontechnik? Ich sage hier jetzt bewusst nicht „serieller Technik“, denn ich habe  mich, was rhythmische Strukturen betrifft,  nur ausnahmsweise einmal (in op. 14) auf mathematische Konstruiererei in diesem Sinn eingelassen. Musik ist für mich immer noch Sprache schlechthin geblieben.

 

Auch wenn man mich jetzt für ignorant hält, so muss ich gestehen, dass das Meiste von dem, was da so vor 100 Jahren 12-tönig geschrieben wurde auf mich doch sehr verkrampft wirkt. Mein alter Lehrer Norrmann hatte auch hier Recht: „Wenn man alle Gewürze in die Suppe kippt, schmeckt man keines mehr heraus“. Es schmeckt dann nur noch den „Testern“, und andere fürchten (allzu) schnell den Ruf der „Rückständigkeit“. Natürlich sind da Werke, die etwa unter die Räder gekommene Figuren betreffen, in dieser Umsetzung ergreifend. Trotzdem kenne zumindest ich keinen Opernliebhaber, der Partien aus einem derartigen Werk zum Frühstück, oder bei der täglichen Arbeit zum Vergnügen im weitesten Sinn nebenbei laufen lässt. Was damals so geschrieben wurde, ist zweifelsfrei interessant, so wie besonders jene Klaviervariationen, die das Meiste dem Vorstellungsvermögen des  Hörers überlassen, sonst hätte auch ich mich nicht damit auseinander gesetzt, aber es ist eben stets  anstrengend, praktisch niemals entspannend – und das ist der Punkt. Rein satztechnisch wurden die 5/4-Intervalle zu stark unterdrückt. Man muss es einfach klar sagen: Schönberg irrte, wenn er glaubte die Musik für die folgenden 200 Jahre gesichert zu haben. Nicht zuletzt die „Musicals“ und Popmusik des 20. Jahrhunderts  haben das ganz eindeutig bewiesen. Sein System kann die auf Obertönen basierende, kadenzgebundene Tonalität nicht ersetzen – aber, wie ich glaube ergänzen und erweitern. Machen wir es kurz - ignorieren wir einfach die Terzen- bzw. Dreiklangsproblematik in den Reihen und schon liefert dieselbe Kompositionstechnik eine Vielzahl wirklich interessanter Satzmöglichkeiten. Man muss sich eben nur von dem Vorurteil frei machen, dass ein Dreiklang als solcher gleich mit funktionaler Tonalität „droht“, wie ich schon früher bemerkt habe. Auch das Ideal der Allintervallreihe sollte  dabei ruhig die Ausnahme bleiben und nicht angestrebtes Ziel. Warum nicht eine Mischung aus nur kleinen Sekunden und großen Terzen, wie ich es in Nr, 2 von op. 23 sequentiell als Fundament für die ganze Pentalogie festgelegt habe, verwenden? Und dann kann man das variieren: kleine Sekunden & Quinten, & Quarten, & kleine Terzen, und schließlich nur noch kleine und große Sekunden, was drei 8-stufige (diatonische?) Skalen je ohne definierter Tonika oder Dominanten ergibt. Tatsächlich existieren da vier gleichwertige Grundtöne, die den Tönen jeweils einem der verminderten Septakkorde entsprechen. Mein op. 26 basiert wesentlich auf dieser Skala. Und es gibt andere Skalen, die man durch Einfügen von Halbtönen in die herkömmliche 7-stufige, diatonische erzeugen kann. Schon Beethoven hat so etwas gemacht. Die aus Terzen solcher Skalen aufgebauten Dreiklänge zeigen dann auch ganz andere, eigene Verwandtschaften, die sich kompositorisch gezielt verwenden lassen. Schließlich lassen sich aber auch die beiden Ganztonskalen noch weit vielseitiger als nur im „impressionistischen“ Sinn verwenden. – Natürlich ist all das nicht „neu“, genauso wenig wie das, was ich über die Unschärferelation etc.. oben geschrieben habe. Dazu schreibe ich es hier ja auch nicht. Jedoch denke ich, dass die meisten der wirklich zahlreichen, faszinierenden Kompositionstechniken, die in diesem und ähnlichem Sinne im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, noch kaum kompositorisch voll „ausgewertet“ wurden. Kaum hatte jemand eine neue, handwerkliche Idee, schon war´s das und man suchte die nächste. Hatte man denn nicht mehr Inhaltliches zu sagen? Im Mittelteil von meinem op. 25 habe ich einen kleinen Vierzeiler eingebaut:

Klang statt Harmonik
Struktur aus Melodie
Was statt wie
Schönheit der Logik

 

Ich denke, dass ich die von mir in op. 1 noch gesuchte Art der Satztechnik in den letzten fünf Nummern meiner Liste schließlich ganz gut formal fundiert, und in der praktischen Umsetzung verwirklicht habe. Es ist eine aus verschiedenen Skalen abgeleitete, im Prinzip kadenzfreie Klangwelt, in der ich zufällige Anklänge an die althergebrachte tonale Harmonik genauso wenig ausschließe, wie aufeinander folgende Terzen oder Intervallsequenzen in (12-Ton) Reihen. Mit Hilfe dieser liberalisierten Reihentechnik habe ich mich gewissermaßen von hinten wieder einer im Prinzip Kadenz-ungebundenen Tonalität genähert. Es ist eben gerade nicht so, wie ein Kommentar kürzlich lautete: „Der macht ja was er will!“ – oder doch? – Dann aber ganz anders als der Betreffende es meinte. – Die Sache mit den Terzen ist für mich damit aber noch nicht erledigt.

 

Wenn man die Terz innerhalb einer festgehaltenen Quinte um den frei wählbaren Halbtonschritt bewegt, so erhält man die bekannte Dur/moll - Situation von Dreiklängen. Hält man die Terz dagegen fest und bewegt die umgebende Quinte als Ganzes um den entsprechend möglichen Halbtonschritt, so erhält man wieder eine Dur/moll – Situation, diesmal aber eine ganz andere, die mehr in Richtung der neapolitanischen Subdominante tendiert. Diese letztere habe ich als eine meiner Marotten irgendwann einmal festgestellt. Sie entstand „nur so“, ich habe sie nie konstruiert, liebe sie aber irgendwie genau so, wie ich seit meinen frühen Jahren die zweite Dominante als Septakkord vielfach der ersten  gefühlsmäßig vorgezogen habe. Sie ist milder. Als mir langsam klar wurde, was ich da immer mache, habe  ich mich dann richtig in dieser Hinsicht gebremst. Irgendwie wurde es mir „peinlich“; ich hatte Hemmungen immer wieder „dasselbe zu sagen“, wenn auch nur im harmonisch/klanglichen Ablauf. – So weit sind wir heute, zumindest in der E-Musik! Vor geraumer Zeit nannte man das vielleicht noch „Kennzeichen eines persönlichen Stils“. Heute wehrt man sich sogar schon dagegen. In der U-Musik tun die Leute das wirklich nicht – sollte man auch nicht – Was statt wie!

 

Eine weitere Geschichte mit den Dreiklängen ist, dass man durch gezieltes Mischen meist von  schon deren zwei die verschiedensten, klar definierten Klänge systematisch erzeugen kann. Man muss das nicht gleich als Polytonalität ansehen. Für mich war dieses Vorgehen umgekehrt auch immer eine Art Reduktionsverfahren zur Analyse. So lässt sich etwa das meiste der Jazzharmonik in dieser Weise auf so eine Art „harmonisches Quarkmodell“ zurückführen: Sechstakkorde kann man als Mischung von Tonika und ihrer Parallelen verstehen, Septakkorde als Mischung von Tonika und der Dominantenparallelen, u.s.w...  Ob man nun die Mischung zweier Dur-Dreiklänge mit Grundtönen im Tritonusabstand auch noch unbedingt funktional benennen sollte oder muss, will ich dahin gestellt lassen. Jedenfalls habe ich so etwas in genau diesem meinem Klangverständnis auch gern benutzt ohne im herkömmlichen Sinn „funktional“ näher darüber nachzudenken – Klang statt Harmonik!

 

Das genügt auch - gerade wenn man ganze 6 von 12 Halbtönen gleichzeitig anschlägt. Was ich mir aber praktisch vollständig untersagt habe, ist die Verwendung von unmotivierten Fülltönen, nur weil es „besser klingt“, oder so. Für das lineare Gestalten, was „lokale Maxima und Minima“ einzelner Stimmen betrifft, war und blieb Palestrina immer das Α & Ω für mich. Es ist fast unglaublich, wie erfolgreich diese seine Denkart auch bei der Verwendung von (12-Ton) Reihen ist! Palestrina kannte ja keine funktionale Harmonielehre im modernen Sinn. Konsonanzen, Dissonanzen und deren Auflösung ergaben sich ganz aus der Stimmführung allein heraus. So gesehen läuft mein Umgang mit dem rein klanglichen Bereich einen ähnlichen Weg, nur dass eben meine Skalen sich nicht auf die der Kirchentonarten beschränken.

 

In der Physik hängt erfolgreiches Denken letztlich immer davon ab, wie und ob das gesamte Gedankengebäude dadurch sinnvoll erweitert wird. In der Musik hängt es dagegen oft nur davon ab, „wer“ es gedacht, bzw. in die Tat umgesetzt hat. Das ist schon irritierend. Fanny Mendelsohn hat sicherheitshalber einige ihrer Kompositionen gleich unter dem Namen des Bruders veröffentlicht! Und wie oft schon hat z. B. ein Kind nicht vor Wut immer wieder dieselbe Taste des Klaviers fast bis zum  Bersten hart angeschlagen? Das gibt Ärger! -  Wenn aber ein etablierter Name der Musikszene genau dasselbe tut, ist es plötzlich ein bewundertes Handeln, eine „tolle, dramatische“ Idee, die auch noch kopiert wird, jedenfalls ist es kein Unfug! -  Wirklich? War der subjektive, emotionale Grund des Kindes wirklich weniger stichhaltig? War er weniger nachvollziehbar? Hatte das Kind weniger Anlass oder etwa nicht einmal das „Recht“ dazu sich so auszudrücken? – Das alles ist schwer nachvollziehbar und widersprüchlich.  Widersprüche sind für den Physiker aber nicht notwendig sinnlos, wie wir gesehen haben. –  Nun  denn:  Abschließend noch ein wenig Grundsätzliches zur Rezeption von Musik so, wie ich persönlich darüber denke. Es war auch dies Teil des rationalen Hintergrundes für mein eigenes Schreiben - und genau dazu wollte ich mich ja hier etwas äußern.

 

Jeder hat spontan ein brauchbares Gefühl für Takt und Rhythmus. Jeder (außer vielleicht mir) kann zumindest so la, la tanzen - ist ja nicht so schwer, oder? Das liegt letztlich an der Existenz unseres Herzschlags als dem Grundtakt des Lebens und diesem etwa entsprechend unserem Schrittrhythmus beim Gehen. Beides ist in der Frequenz zwar variabel, aber doch recht wenig. Beides läuft  (im gesunden Zustand) periodisch, aber nicht chaotisch ab und gibt uns so das Gefühl für schnell und langsam bei Körperbewegungen, die für den Erhalt des Lebens so wichtig sind. Genauso messen sich Sprachrhythmen an diesem Takt, und diese waren für unser Kommunikationsverhalten, ohne das unsere ganze Entwicklung gar nicht möglich gewesen wäre, von zentraler Bedeutung. Wer hierfür keinen Sensus hatte, war kein erfolgreiches Mitglied der Gemeinschaft. Deswegen haben wir heute lebenden Menschen alle ein gutes Gedächtnis für Rhythmen, was eine Grundvoraussetzung für die Rezeption von Musik ist.

 

Jeder von uns ist in der Lage Kinderlieder zu singen – mehr oder weniger gut, aber im Prinzip eben doch immer irgendwie. Wir haben ein gut ausgeprägtes Gedächtnis für Melodielinien. Das liegt daran, dass wir auch in der Sprache für deren Melodie ein gutes Gedächtnis brauchen um optimal kommunizieren zu können. Neben der rein rationalen Aussage enthält Sprache im Sinne von Betonungen stets ein weiteres, großes Spektrum an Informationen. Sehr gut können wir genau auf diese Weise oft Gelogenes von der Wahrheit direkt unterscheiden. Wer das besser konnte, hatte – auch für seine Gene – die besseren Überlebenschancen. Und auch das ist wieder entscheidend für unsere Rezeption von Musik (wahrscheinlich in zweiter Linie).

 

Das Wiedererkennen von Klängen scheint dagegen keine große Rolle in unserer Entwicklung gespielt zu haben. Unser Gedächtnis für Harmonik ist denkbar dürftig ausgebildet. Schlage ich einen D-Dur Dreiklang kurz auf dem Klavier an, so ist wohl jeder in der darauf folgenden Minute (in etwa) in der Lage diesen gedächtnismäßig zu rekapitulieren. Nach schon einer halben Stunde sieht das für die meisten aber gleich ganz anders aus. Nur sehr Wenige dürften dann einen Es-Dur Akkord kurz angeschlagen als etwas eindeutig anderes sofort identifizieren können. Meist sind es Musiker, die schon berufsmäßig durch häufiges Training hierzu in der Lage sind. Das sog. absolute Gehör ist in medizinischen Kreisen dennoch ziemlich umstritten, zumindest wenn es um längere Zeiträume geht. Tinitustöne können gelegentlich nämlich eine (unbewusste) Stütze liefern. Es ist bekannt, dass Beethoven seine Sinfonien meist einstimmig  zunächst notiert hat, also die durchgehenden melodischen Linien. Seine Skizzenbücher verraten das. Die Instrumentierung geschah erst danach als zweiter Schritt. Auch das noch erhaltene Manuskript der Mozart´schen „Kleinen Nachtmusik“ zeigt, dass zunächst die Stimme der ersten Violine durchgehend geschrieben wurde, die übrigen drei Stimmen wurden später „ergänzt“. Was wir von diesen Werken im Gedächtnis behalten, was uns persönlich davon  „bereichert“, sind entsprechend auch fast nur die rhythmisch strukturierten Melodielinien. Nur die pfeifen wir so vor uns hin. Die Vorstellung der Instrumentierung, ganz besonders aber die Erinnerung an den harmonischen Ablauf ist regelmäßig schlecht, bzw. nur rudimentär ausgeprägt.  Genau das ist der Grund, warum es uns immer wieder Vergnügen bereitet auch gut bekannte Werke wieder im Original, etwa im Konzert anzuhören. Zwar kennen wir die melodischen Linien u. U. schon auswendig, das rein Klangliche aber bietet dennoch immer wieder „Überraschungen“. Ich halte es für bedenklich, dass nun gerade in jenem Bereich der Musik, für den unser Gedächtnis am schlechtesten ausgeprägt ist, im 20. Jahrhundert die meisten „neuen Wege“ der E-Musik gesucht (und gefunden) wurden. Schon so manche der spätromantischen Orchesterwerke sind gigantisch instrumentiert, jedoch von der melodisch-rhythmischen Struktur her nicht selten schwach, etwa durch endlose Sequenzen o. ä. gekennzeichnet. Auch diese Werke findet man deshalb wohl entsprechend selten auf den Konzertprogrammen. Man nahm zu wenig davon mit nach Hause. Der Wunsch nach Wiederhören war allgemein gering.  In der Dodekaphonie werden Töne sinngemäß durch Intervalle, also „Zusammenklang“ ersetzt. Dafür aber haben wir  ein schlechtes Gedächtnis. Die Dinge sind für uns allein gehörmäßig deshalb meist kaum nachvollziehbar. Dass viele neue Werke des 20. Jahrhunderts letztlich nur „Eventcharakter“ hatten, könnte ebenfalls genau darauf zurück zu führen sein. Das spontane Erlebnis war u. U. enorm beeindruckend, dennoch blieb der Wunsch nach Wiederholung in der Regel schwach, weil man zu wenig davon im Gedächtnis behielt. (Ich weiß wovon ich rede!) Selbst habe ich mich deshalb stets bemüht die gesamte Struktur eines Musikstücks im Sinne einer klaren, melodisch-rhythmischen „Aussage“ zu gestalten, auch wenn das meistens nicht mehr mit dem Zeitgeschmack konform lief. Während der harmonisch/klangliche Bereich der Musik sich in vielerlei Hinsicht gegen Ende des 20. Jahrhunderts trotz Computer – nach meinem Dafürhalten – als nicht mehr beliebig erweiterbar erwiesen hat, öffnen Strukturen generell ein unbegrenztes Feld für die Fantasie. Aller Fortschritt in der theoretischen Physik ist generell auf ein jeweils erweitertes Strukturdenken zurück zu führen, wobei ein Ende des „Aufblasens unseres Wissensballons“ hier nicht abzusehen ist. Auch Literatur und Bildende Kunst sind in dieser Hinsicht offenbar keinerlei Grenzen unterworfen. Den Sprachrhythmus der Struktur in der Musik halte ich deshalb für etwas unabdingbar Wesentliches:                                   
Struktur aus Melodie!

 

Es gibt „Musikalische Gattungen“ als Vorlagen für die Form. Es gibt Stimmführungsregeln für das Gestalten melodischer Linien. Es gibt die Harmonielehre, aber es gibt keinerlei allgemeingültige Regeln für das sprachrhythmische Gestalten musikalischer Abläufe. Die sprachrhythmische Logik war das Neue, die Stärke, das Einzigartige Mozart´scher Melodien. Eine „Schule“ hat er nie begründet, weil man das offenbar nicht in Regelform weitergeben kann. Es bleibt nur beim Feeling; es bleibt lediglich ein immer wieder nur anzustrebendes Ideal.

 

Zur Zeit des Pythagoras waren Musik und Mathematik noch Eines. Das gesprochene Wort wurde seit jeher auch melodisch deklamiert. Gedichte führten zu Liedern. Tänze führten einerseits zu Suiten und diese schließlich zu vom Tanz ganz losgelösten Sonaten und Sinfonien. Andererseits führten Tänze über Passacaglien und Chaconnen aber auch zur reinen Instrumentalvariation. Messen und Passionen wurden zu eigenständigen Musikgattungen und biblische Geschichten zu Oratorien. Das Prosatheater initiierte die Oper. Das Quartett erfüllte einen sozialen Zweck und im 19. Jahrhundert gingen Literatur und Musik eine besonders enge Bindung ein. Die Emotionen des Individuums rückten ins Zentrum und auch die Natur fand ihren Ausdruck in der Musik. Was zwei Weltkriege in der E-Musik des 20. Jahrhunderts letztlich bewirkt haben, ist nicht mehr zu übersehen. Kunst war immer ein Abbild ihrer Zeit, das sich auch je nach regionaler Geschichte, etwa bezüglich der USA und Skandinavien beim Vergleich mit Zentraleuropa in  charakteristischer Weise unterscheidet. Dennoch hat der MINT - Bereich menschlichen Denkens nicht nur Verheerendes möglich gemacht. Ich sehe im rationalen Verständnis der Natur vor allem die                                                       
Schönheit der Logik!

 

Das Leben zwingt uns ins Erwachsen werden, den schützenden Raum des Anfangs stetig weiter zu verlassen. Die Sehnsucht zurück ins zeitlich Unendliche aber bleibt. So leben wir denn niemals in nur einer Welt. Es ist dies nicht nur unser Schicksal, sondern auch eine permanente, duale(!) Herausforderung, denn

 

  -  die Welt an sich hat keinen „Sinn“ -  nur wir können der unseren einen geben. -

 

R. Claus,   Esting, den 21. 05. 2013

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(..im Sinne der Selbstbezüglichkeit!)

 

 

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